Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg

[Abschrift]

OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG

BESCHLUSS

OVG 6 S 12.13 / OVG 6 M 21.13
VG 7 L 682/12 Potsdam

In der Verwaltungsstreitsache
des mdj xxx, vertreten durch xxx
Antragstellers und Beschwerdeführers,
bevollmächtigt:
Rechtsanwältin xxx

gegen

den Oberbürgermeister xxx
Antragsgegner und Beschwerdegegner,

hat der 6. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht xxx, die Richterin am Oberverwaltungsgericht xxx und den Richter am Oberverwaltungsgericht xxx am 18. April 2013 beschlossen:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 6.Februar 2013 wird geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache Hilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form einer dyskalkulietherapeutischen Intervention durch höchstens 90 einzeltherapeutische Sitzungen zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Gründe

  1. Mit seinem Antrag begehrt der am 17. August 2003 geborene Antragsteller die vorläufige Gewährung von Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, der Antragsteller habe keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, weil aus den vorgelegten Unterlagen nicht ersehen werden könne, dass aufgrund der bei ihm diagnostizierten Dyskalkulie seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Nach dem für den Senat gemäß § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO maßgeblichen Beschwerdevorbringen ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet. Der Antragsteller hat den für die begehrte einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO notwendigen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

  1. a) Gemäß §35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Kenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 vorliegt, ist nach § 35a Abs. 1a SGB VIII durch eine dafür besonders qualifizierte Person auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegebenen deutschen Fassung (ICD-10-GM) festzustellen.
  1. aa) Nach den eingereichten kinderpsychologischen und schulischen Stellungnahmen ist davon auszugehen, dass bei dem Antragsteller eine länger als sechs Monate andauernde Abweichung seiner seelischen Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegt: er leidet u.a. an einer sog. kognitiven Teilleistungsstörung in Form einer Dyskalkulie (ICD-10 F 81.2). Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und auch nach Auffassung des Senats entsprechend dem „Bericht über den mathematischen Lernstand“ des Dr. Kwapis vom Zentrum für Therapie der Rechenschwäche – ZTR – vom 24. April 2012 nicht in Zweifel zu ziehen.
  1. bb) Der Antragsteller hat ferner glaubhaft gemacht, dass er aufgrund der altersuntypischen Abweichung seiner seelischen Gesundheit in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt, zumindest aber eine solche Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Daher sind auch die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 2 SGB VIII gegeben. Diese (drohende) Teilhabebeeinträchtigung ergibt sich aus dem Bericht der Diplom-Psychologin xxx vom 22. Januar 2013. Danach werden beim Antragsteller seit ca. sechs Monaten zunehmend unberechenbare aggressive Verhaltensweisen sowie Verweigerungshaltung in Schulsituationen beobachtet. Ebenfalls seit ca. einem halben Jahr nässe der Antragsteller verstärkt nachts und in jüngster Zeit auch tagsüber wieder ein. In einer Stellungnahme der psychologischen Psychotherapeutin xxx vom 1. Oktober 2012 heißt es insoweit: Seit etwa drei Monaten würden bei dem Antragsteller verstärkt unberechenbare aggressive Durchbrüche beobachtet, die im Zusammenhang mit einer Rechenschwäche zu sehen seien. Des Weiteren nässe er wieder verstärkt ein bzw. sei sehr verkrampft oder verweigere die Leistung, wenn es ums Rechnen gehe. Die Auffälligkeiten seien so massiv, dass von einer psychogenen Folgestörung aufgrund einer Dyskalkulie ausgegangen werden könne. Auch in der psychologischen Stellungnahme der Diplom-Psychologin Frau Dr. xxx des Kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes vom 7. Juni 2012 wird dem Antragsteller eine ausgeprägte Rechenstörung bescheinigt. Er operiere zum einen völlig hilflos mit Rechenaufgaben, sei zum anderen aber sehr unter Druck, Ergebnisse zu produzieren. Ohne Einsicht in die erforderlichen Zusammenhänge ergebe sich daraus ein großer innerer psychischer Druck, den er in der Schulsituation mit ausweichendem und situationsunangemessenem Verhalten zu kompensieren versuche. Er sei infolge der Rechenstörung in erheblichem Maße in seiner Teilhabe am schulischen Lernen beeinträchtigt und von seelischer Behinderung bedroht. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die Schilderungen der Pflegemutter vom 14. Mai 2012 im Eltern-Fragebogen zum Antrag auf Jugendhilfe. Dort führt sie unter Punkt „VI. Entwicklung des Problemverhaltens“ aus, der Antragsteller merke, dass er nicht so gut rechnen könne wie andere Kinder in seiner Klasse. Er haue andere Kinder, wenn die das richtige Ergebnis sagten. Er werde wütend, wenn er nicht rechnen könne. Er verweigere manchmal die Mitarbeit im Unterricht. In ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 17. Februar 2013 im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens schildert die Pflegemutter weiter, dass bei dem Antragsteller seit ca. einem halben Jahr Veränderungen im Verhalten bemerkbar seien. Er zweifele an seinen Fähigkeiten zu lernen, denke, er könne nichts und werde ungeduldig aufbrausend, wenn ihm etwas nicht gelinge. Aufgrund seines Alters werde ihm jetzt erst richtig bewusst, dass er in der Schule nicht so gut sei wie andere Kinder und dass er trotz seines Übens zu keinem besseren Leistungsstand in Mathematik komme. Sehr gravierend für seinen seelischen Zustand sei, dass er wieder verstärkt einnässe. In der Nacht müsse er Windeln tragen. Das sei ihm seinen Geschwistern gegenüber sehr unangenehm. Auch am Tag nässe er verstärkt ein. Dadurch sei er in seinem Freizeitverhalten sehr eingeschränkt. Zum Beispiel könne er am Chorlager im Frühjahr und an der Hortübernachtung nicht teilnehmen. Auch Übernachtungen bei Freunden, z.B. bei Geburtstagsfeiern, könne er nicht wahrnehmen. Er rieche häufig stark nach Urin, wenn er aus dem Hort nach Hause komme. Wechselhosen ziehe er nicht an, wenn er eingenässt habe, weil die anderen Kinder es dann merken würden. Die Klassenlehrerin des Antragstellers teilt in einer schriftlichen Äußerung vom 11. Februar 2013 mit, dass Leistungsdefizite des Antragstellers im Fach Mathematik bisher auch trotz individueller Hilfe in der Schule sowie im häuslichen Bereich nicht ausreichend hätten abgebaut werden können. Wahrscheinlich habe der Antragsteller auch aufgrund der ständigen und anhaltenden Misserfolge in Mathematik ein geringes Selbstvertrauen und werde dadurch immer häufiger verhaltensauffällig. Seien seine Lösungen falsch, bekomme er oft Wutanfälle, schmeiße mitunter seine Sachen durch den Klassenraum oder bocke lange und lasse sich nicht immer zum Weiterarbeiten motivieren. Arbeiten, auf denen schlechte Noten stünden, zerreiße er meist.

Diese Aussagen lassen den Schluss zu, dass die emotionalen und sozialen Auswirkungen der Entwicklungsstörung zu einer nicht nur vorübergehenden und wesentlichen seelischen Behinderung des Antragstellers geführt haben, zumindest aber, dass eine solche mit dem in § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII geforderten hohen Wahrscheinlichkeitsgrad droht.

Die geschilderten Sekundärfolgen der Rechenstörung des Antragstellers gehen nach Intensität und Dauer über bloße „normale“ Schulprobleme und -ängste hinaus, die auch andere Kinder mitunter teilen, jedoch überwinden können. Letzteres ist bei dem Antragsteller offensichtlich nicht der Fall.

Die Feststellungen des Verwaltungsgerichts rechtfertigen keine andere Entscheidung. Das Verwaltungsgericht weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Antragsteller nach den vorliegenden Unterlagen ein fröhliches, freundliches Kind sei, Freunde habe, mit denen er fast täglich die Freizeit verbringe und mit denen er gut auskomme und auch sonst ein freundlicher und freudiger Schüler sei, der dem Sachunterricht mit sichtbarer Freude folge und ihn oft mit eigenen Beiträgen bereichere, als lernwillig und motiviert beschrieben werde und zumeist in der Lage sei, dem Unterricht zu folgen, guten Kontakt zu allen Kindern habe, hilfsbereit sei, aufgeschlossen, anerkannt, gern Aufträge übernehme und in der Gruppe arbeite und anderen helfe. Die vom Verwaltungsgericht geschilderten Umstände schließen das Vorliegen einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung jedoch nicht aus. Angesichts des Ziels der Eingliederungshilfe, für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, bereits den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten (vgl. § 35a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit § 53 Abs. 3 SGB XII), haben Erfolg versprechende Eingliederungsmaßnahmen so früh einzusetzen, dass der Eintritt der Behinderung noch abgewendet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 – 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487; VG Braunschweig, Urteil vom 23. Mai 2002 – 3 A 347/01 -, juris), also nicht erst dann, wenn bereits Auffälligkeiten eingetreten sind, die einer jugendpsychiatrischen Behandlung bedürfen. Deshalb würden die Anforderungen für die Annahme einer drohenden Behinderung hier überspannt, wenn zunächst der Eintritt einer völligen Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder ein Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule festzustellen wäre.

Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass die zitierten Stellungnahmen, insbesondere der Diplom-Psychologin xxx, nicht nachvollziehbar seien und eine gebotene Substanziierung vermissen ließen, teilt der Senat vor dem dargelegten Hintergrund nicht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Diplom-Psychologin den Antragsteller nicht in Schulsituationen beobachtet und ihre fachlichen Schlussfolgerungen anscheinend aufgrund anderer fachlicher Stellungnahmen sowie der Schilderungen der Pflegemutter gezogen hat.

  1. b) Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht, weil ohne die Therapie die Gefahr besteht, dass sich die psychischen Beeinträchtigungen des Antragstellers weiter verstärken. Daher kann dem Antragsteller ein Zuwarten mit der gebotenen Therapie bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden. Die Begrenzung der vorläufigen Hilfegewährung auf insgesamt maximal 90 Therapiesitzungen beruht einerseits auf der ungewissen Dauer des Hauptsacheverfahrens, andererseits auf der Einschätzung des ZTR vom 24. April 2012 über den voraussichtlich erforderlichen Therapiezeitumfang von ca. 70 bis 90 Fachleistungsstunden. Bis dahin besteht gegebenenfalls Gelegenheit, den Antragsteller erneut begutachten zu lassen und – falls noch erforderlich – einen Hilfeplan nach § 36 SGB VIII zu erstellen.
  1. Einer Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren sowie über die Beschwerde gegen die erstinstanzliche Ablehnung von Prozesskostenhilfe bedürfte es angesichts der zu Gunsten des Antragstellers ergangenen Kostengrundentscheidung nicht (mehr).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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