Ist Rechenschwäche die Folge gestörter Hirnfunktionen?

In der Neuropsychologie wird der Prozess des Rechenlernens (und dessen mögliches) Scheitern vielfach als Hirnreifungsprozess (und dessen Störung) begriffen. Es wird dabei nicht auf die Besonderheit des Lerngegenstands Zahlen eingegangen. Stattdessen werden die hier so genannten „domänen-übergreifenden Funktionen” wie Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis und „bildliche Vorstellungskraft”, die Fähigkeit zu sprachlicher Begriffsbildung und auch sensomotorische Funktionen als für die Entwicklung der Zahlenverarbeitung und des Rechnens wesentlich betrachtet. Daraus wird abgeleitet, dass Dyskalkulie ihre Ursache in einer mangelnden oder verzögerten Entwicklung dieser „domänen-übergreifenden Funktionen“ habe.Jedes Lernen erfordert hirnfunktionelle Leistungen wie die oben benannten. Sind diese beeinträchtigt, nicht entwickelt oder gestört, wirkt sich das auf alle schulischen Lernprozesse aus. Aufmerksam zu sein, konzentriert arbeiten zu können, Erlebtes und Gedachtes sprachlich ausdrücken zu können, das Ganze später auch in Schriftsprache umzusetzen, sich etwas vorstellen zu können, was nicht mehr zu sehen ist usw. sind Fähigkeiten, die für jeden Lernprozess benötigt werden.

Die Schwierigkeit des Rechnenlernens, seine inhaltlichen Besonderheiten, die es von anderen Lerninhalten und Lernprozessen unterscheidet und die institutionellen Bedingungen unter denen das Rechnenlernen stattfindet, werden in der Neuropsychologie nicht bzw. nur unzureichend beachtet. Das Rechnenlernen wird reduziert auf ein biologisches Entwicklungsproblem. Mit der Annahme, dass Dyskalkulien auf fehlende oder verzögerte hirnfunktionelle Reifungsprozesse zurückzuführen seien, werden Verständnisprobleme, die sich immer in Lernprozessen und beim Befassen mit abstrakten Inhalten ergeben können, zu individuellen Abweichungen von als normal definierten Hirnreifungsprozessen erklärt und damit pathologisiert.

Rechenschwäche ist nicht Folge gestörter Hirnfunktionen. Ein empirischer Nachweis von cerebralen Störungen und Störungen der kognitiven Funktionen, die sich nur auf das Erlernen des Rechnens negativ auswirken, fehlt bis heute.

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