Wie kommt es zu sich widersprechenden diagnostischen Ergebnissen?

In psychologischen und psychiatrischen Praxen werden Rechenprobleme nach den Vorgaben des internationalen Klassifikationssystems ICD-10 untersucht. In der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) wird die Rechenstörung als eine bleibende Störung mit Krankheitswert, wie auch alle anderen dort umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten begriffen und entsprechend als pathologische Abweichung von der Normalentwicklung untersucht.

Dazu wird die Rechenleistung des Kindes oder Jugendlichen in einem quantitativ auszuwertenden Test mit den Leistungen der Normgruppe (Alters- oder Klassennorm) verglichen. Liegt die Rechenleistung im Prozentrang kleiner 7 (d.h. die Rechenleistung des Kindes oder Jugendlichen gehört zu den unteren 7% der Alters- oder Klassennorm) wird eine Rechenstörung diagnostiziert. Ein weicheres Diagnosekriterium mit einem Prozentrang kleiner 16 in der Alters- oder Klassennorm soll anwendbar sein, wenn klinische und qualitative Kriterien den Verdacht einer Rechenstörung deutlich unterstützen. Damit soll darauf reagiert werden, dass Rechenschwache durch Kompensationsmaßnahmen (z. B. überdurchschnittliche Intelligenz, Anstrengung, Unterstützung) ihr Leistungsniveau höher halten können, bis dies durch steigende schulische Anforderungen nicht mehr möglich ist.

In den psychometrischen Diagnostikverfahren, die der ICD-10-Logik folgen, wird durch das Auswerten von Testaufgaben nach dem Richtig-Falsch-Schema – sowie bei einigen Tests unter Hinzuziehen der Bearbeitungszeit – ein Punktwert ermittelt. Dieser wird mit der Leistung der Alters- oder Klassennorm verglichen und ggf. wird die Diagnose einer Rechenstörung gegeben.

Bei einer solchen Untersuchung wird nicht erfragt, ob das Kind oder der Jugendliche die Logik der Sache, also hier die Logik von Zahlen, ihrer Wertbeziehungen, den Aufbau und die Struktur des dekadischen Zahlsystems und die Logik der Rechenoperationen verstanden hat. Dazu bedürfte es einer Untersuchung nach qualitativen Kriterien wie sie bei einer Lösungsprozess analytischen Diagnostik erfolgen. Den Hinweis auf die sachlich ungeeigneten Kriterien einer Normstichproben orientierten Diagnostik, wie sie die ICD-10 vorschreibt, geben deren Befürworter selbst mit ihrem „weichen“ Diagnosekriterium und dem Verweis auf die Kompensationsstrategien bei mangelnden Fertigkeiten.

Es kommt damit zwangsläufig häufiger zu Diagnostikergebnissen, die sich widersprechen: in einer lösungsprozessanalytischen Diagnostik – wie sie im ZTR durchgeführt wird – werden deutliche Wissens- und Fertigkeitsdefizite in der elementaren Arithmetik festgestellt; in der ICD-10-Diagnostik werden Rechenleistungen im Prozentrangbereich kleiner 20 oder um 20 festgestellt. Damit wäre die Rechenleistung noch keine „persistierende Störung mit Krankheitswert“ namens Rechenstörung, auch wenn die in der qualitativen Diagnostik beschriebenen Denkweisen und Lösungsprozesse des Kindes ähnlich denen eines Kindes mit einer Prozentrangleistung von 7 sind.

Umgekehrt muss gefragt werden, wie bei Annahme einer „persistierender Störung mit Krankheitswert“ eine geeignete Hilfe zum Überwinden dieser anhaltenden Erkrankung aussehen soll. Wir wissen, dass sich fehlende Einsichten in die Logik von Zahlen und Rechenoperationen durch das Erarbeiten dieser fehlenden Einsichten und das Überwindungen der bisherigen Fehlannahmen zu Zahlen erarbeiten lassen. Die Grundlage dafür ist eine detaillierte lösungsprozessanalytische Lernstandsdiagnostik in der das zahlenmathematische Bewusstsein des Kindes oder Jugendlichen erfasst wird. Die Vergabe eines Prozentranges hilft hier nicht weiter.

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