VG Halle 24.01.08

Verwaltungsgericht Halle
Az.: 4 A 415/05 HAL
Urteil
(…) Klägerin,
gegen Stadt Halle (…) Beklagte,

Streitgegenstand: Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapie

Hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Halle durch den Richter am Verwaltungsgericht als Einzelrichter auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2008 für Recht erkannt:

Die Beklagte wird verpflichtet, die Kosten der Dyskalkulietherapie der Klägerin im ZTR Halle-Leipzig für die Zeit ab dem 25. Oktober 2005 zu übernehmen.
(…)

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Verpflichtung zur Bewilligung von Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII durch Übernahme der Kosten ihrer Dyskalkulietherapie.

Sie wurde am 08. Juni 1994 geboren und im Jahr 2000 in eine Grundschule eingeschult. Im 5. Schuljahr besuchte sie das „Christian-Wolf-Gymnasium“ in Halle, welches sie mit der Note 4 im Fach Mathematik abschloss. Während des 6. Schuljahres wechselte sie an das „Dom-Gymnasium Merseburg“. Dort erreichte sie im Fach Mathematik lediglich die Note 5 und musste aufgrund dessen das Schuljahr wiederholen.

Bereits nach Beginn des Schuljahres 2004/2005 machte die Klassenlehrerin der Klägerin deren Eltern auf erhebliche Probleme der Klägerin im Fach Mathematik aufmerksam, woraufhin die Eltern zunächst Nachhilfeunterricht organisierten. Anfang 2005 wiesen Mitschüler darauf hin, dass die Klägerin „Ich möchte nicht mehr leben“ in den Schnee geschrieben habe. Die Mutter der Klägerin fand in deren Schulheften Bemerkungen wie „Ich bin doof, ich wünsche mir, dass ich tot bin“ und „Ich möchte sterben“.

Nach Konsultation der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Halle im April 2005, wo die behandelnden Ärzte bei der Klägerin eine Anpassungsstörung mit depressiver Störung, eine Störung sozialer Funktionen und Essattacken mit Übergewicht diagnostizierten, suchten die Eltern mit der Klägerin das Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) Halle-Leipzig auf. Im Ergebnis des dort am 25. Mai 2005 durchgeführten qualitativ – prozessanalytischen Dyskalkulietests (Jenaer Rechentest – Klammerhinweis nicht im Original) wurde bei der Klägerin eine mediale isolierte Dyskalkulie (ICD – 10 F 81.2) diagnostiziert, wodurch der seelische Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei bzw. diese Beeinträchtigung ohne dyskalkulietherapeutische Intervention als chronisch zu erwarten sei. Der Klägerin fehlten Einsichten zur Beurteilung quantitativer Verhältnisse bereits im Bereich mathematischer Grund- und Elementarabstraktionen. Unter dem schulischen, familiären und sonstigen Leistungsdruck resultierten daraus subjektive Kompensationsstrategien (statt Rechnen begriffsloses Auswendiglernen, schematisches Rechnen, unangemessenes schriftliches Rechnen) mit typischen dyskalkulierelevanten Fehlerbildern. Es werde eine Dyskalkulietherapie (ca. 100 bis 120 Stunden) zur Überwindung des mathematischen Defizits im Primärsektor der Störung sowie zur Behandlung der seelischen und entwicklungsbiographischen Sekundärsymptomatik empfohlen. Am 02.Juni 2005 begann die Klägerin im ZTR Halle-Leipzig eine Einzeltherapie (45 Min/Woche). Deren Kosten belaufen sich ausweislich des unter dem 08. Juni 2005 geschlossenen Vertrags auf 230,- Euro monatlich.
Am 14.Juni 2005 beantragte die Klägerin unter Vorlage des vom ZTR Halle-Leipzig erstellten Berichts vom 31.05.2005 die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die bereits begonnene Therapie. Daraufhin holte die Beklagte eine Stellungnahme der Schule, eine Stellungnahme des Allgemeinen Sozialen Dienstes, eine Stellungnahme der Diplompsychologin Mayer und eine Stellungnahme des sozialpsychiatrischen Dienstes durch die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Kühn ein. In ihrer Stellungnahme vom 03. August 2005 führte die Diplompsychologin Mayer aus, die am 06. Und 11. Juli 2005 durchgeführten Untersuchungen hätten den Verdacht einer isolierten Rechenschwäche nicht bestätigt. Grundlegende Vorstellungen über Zahlen, Größen und Mengen seien bei der Klägerin vorhanden. Sie sei in der Lage, Standardrechenschritte anzuwenden und kenne die den Rechenoperationen zugrunde liegenden Konzepte. Es sei das Verständnis für quantitative Verhältnisse beim Überprüfen der Ergebnisse vorhanden. Schwierigkeiten bestünden jedoch beim Umgang mit gemeinen Brüchen und bei der Problemerfassung von Textaufgaben. Zudem unterliefen der Klägerin häufig Flüchtigkeitsfehler. Die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Kühn kam im Rahmen ihrer Stellungnahme vom 25. August 2005 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass eine isolierte Dyskalkulie bei der Klägerin nicht bestehe.

Nach Durchführung eines Gesprächs mit der Klägerin durch den Allgemeinen Sozialen Dienst der Beklagten lehnte die Beklagte die Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 24. Oktober 2005 ab, weil die durchgeführte multiprofessionelle Diagnostik ergeben habe, dass eine seelische Behinderung bei der Klägerin nicht vorliege und eine solche auch nicht drohe.
Die Klägerin hat am 24. November 2005 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen geltend macht: Jedenfalls im Zeitpunkt der Klageerhebung habe eine Rechenschwäche bestanden, wie sich aus dem Bericht des ZTR Halle-Leipzig ergebe. Dadurch seien bereits psychische Störungen aufgetreten, wie „Fressattacken“, „Einnässen“ oder geäußerte Suizidabsichten. Nachdem sie Teile der ihr in der Dyskalkulietherapie vermittelten Kenntnisse bis nahezu Ende 2006 nicht oder nur schwer erfasst und wieder vergessen habe, sei seit Beginn des Jahres 2007 eine gravierende Veränderung festzustellen. Sie könne nunmehr konzentriert über 45 Minuten arbeiten und neue Inhalte erarbeiten und stehe nicht mehr hilflos vor mathematischen Aufgaben. Der Anschluss an den aktuellen Schulstoff sei gleichwohl noch nicht geschafft, weshalb die Therapie bis zum Anschluss an den Schulstoff fortgesetzt werde müsse. Soweit die Diplompsychologin Mayer das Vorliegen einer Dyskalkulie verneint habe, kranke das Gutachten daran, dass die angewandten Tests nicht geeignet seien, die bei der Klägerin vorhandene Rechenschwäche festzustellen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24. Oktober 2005 zu verpflichten, der Klägerin Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten ihrer Dyskalkulietherapie im ZTR Halle-Leipzig zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die von eingeholten Stellungnahmen hätten ergeben, dass eine isolierte Dyskalkulie bei der Klägerin nicht vorliege. Die angewandten Tests (Schweizer Rechentest – Klammerhinweis befindet sich nicht im Original) entsprächen dem aktuellen Katalog der Göttinger Testzentrale und seien daher zur Diagnose geeignet. Die Klägerin habe zudem die Therapie begonnen, ohne zuvor bei der Beklagten eine entsprechende Leistungserbringung zu beantragen und die Entscheidung abzuwarten.
Die Klägerin wurde seit April 2005 kinderpsychiatrisch betreut. Sie besuchte zudem parallel eine Gruppentherapie. Im Januar 2007 wurde sie in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie aufgenommen, wo sie etwa drei Monate stationär betreut wurde.
Die Kammer hat Beweis erhoben über die Frage, ob bei der Klägerin eine isolierte Rechenschwäche vorlag bzw. vorliegt und ob diese zu einer seelischen Störung geführt hat, in deren Folge die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung droht, durch Vernehmung des Herrn Dr. Olaf Steffen, Leiter des ZTR Halle-Leipzig, der Diplompsychologin Mayer und der Diplompädagogin Boltze als sachverständige Zeugen sowie durch Einholung eines kinderpsychiatrischen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. Blanz, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Jena (ZAREKI – Klammerhinweis nicht im Original). Der Sachverständige hat sein Gutachten im Termin zur mündlichen Verhandlung erläutert („definitiv keine Dyskalkulie“ – Klammerhinweis nicht im Original). Darüber hinaus hat die Kammer Beweis erhoben über den Stand der Therapie und die zu erwartende Therapiedauer durch Vernehmung des Herrn Steffen Schubert als sachverständigen Zeugen.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2008 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat teilweise Erfolg.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Kosten ihrer Dyskalkulietherapie beim ZTR Halle-Leipzig für die Zeit ab dem 25. Oktober 2005. Insoweit ist der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2005 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO (II.)). Soweit die Beklagte die Kostenübernahme für die Zeit vom 02. Juni 2005 bis zum 24. Oktober 2005 abgelehnt hat, ist der Bescheid hingegen rechtmäßig, weil der Klägerin insoweit der geltend gemachte Anspruch nicht zusteht (I.).
I. Die Beklagte ist zur Übernahme der Kosten der Dyskalkulietherapie der Klägerin für die Zeit vom 02. Juni 2005 bis zum 24. Oktober 2005 nicht verpflichtet, weil insoweit ein Fall der sog. Unzulässigen Selbstbeschaffung vorliegt.

Der Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII ist – wie die übrigen Leistungen der Jugendhilfe – auf die Deckung eines gegenwärtigen Hilfebedarfs durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe gerichtet. Dieser ist bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen gehalten, die Hilfe durch eigene Einrichtungen oder Veranstaltungen, durch beauftragte fremde Einrichtungen oder Veranstaltungen oder durch Übernahme der Kosten einer bevorstehenden Inanspruchnahme einer privaten Einrichtung durch den Hilfe Suchenden zu erbringen.

Um eine derartige „primäre“ Leistung des öffentlichen Jugendhilfeträgers geht es nicht, wenn – wie hier – der Leistungsberechtigte sich die für erforderlich gehaltene Jugendhilfe ohne Mitwirkung und Zustimmung des Jugendhilfeträgers bereits von Dritten selbst beschafft hat und er lediglich die Erstattung der hierfür aufgewendeten Kosten begehrt. Diese sog. Selbstbeschaffung führt allerdings nicht zum ersatzlosen Wegfall des Primäranspruchs auf Hilfe durch das Jugendamt. Vielmehr ist anerkannt, dass der Träger der Jugendhilfe (sekundär) zur Erstattung von Kosten für bereits anderweitig durchgeführte Maßnahmen verpflichtet sein kann (vgl. OVG NW, Urteil vom 14. März 2003 – 12 A 1193/01 -, FEVS 55, S. 86 m.w.N.).

Indessen hat der Jugendhilfeträger die Kosten für ohne sein Zutun durchgeführte Maßnahmen nicht schon dann zu erstatten, wenn im maßgeblichen Zeitraum die tatbestandlichen Voraussetzungen der im Einzelfall maßgeblichen Hilfenorm erfüllt waren. Der Hilfesuchende ist nur dann zur Selbstbeschaffung einer Jugendhilfeleistung berechtigt, wenn er hierauf zur effektiven Durchsetzung eines bestehenden Jugendhilfeanspruchs angewiesen ist, weil der öffentliche Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat, das für die Leistungsgewährung vorgesehene System also versagt hat. Ein solches „Systemversagen“ liegt vor, wenn die Leistung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht erbracht wird, obwohl der Hilfe Suchende die Leistungserbringung durch eine rechtzeitige Antragstellung und seine hinreichende Mitwirkung ermöglicht hat und auch die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vorliegen. In dieser Situation darf sich der Leistungsberechtigte die Leistung selbst beschaffen, wenn es ihm wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten ist, die Bedarfsdeckung aufzuschieben (vgl. OVG NW, Urteil vom 14. März 2003 – 12 A 1193/01 -, a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 11. August 2005 – 5 C 18/04 -, FEVS 57, S. 481).

Diese aus dem Sinn und Zweck der Jugendhilfe, nicht lediglich Kostenträger, sondern zugleich Leistungsträger zu sein, entwickelte verwaltungsrechtliche Rechtsprechung hat nunmehr in dem – nach der Selbstbeschaffung der Leistung durch die Klägerin – am 01- Oktober 2005 in Kraft getretenen § 36 a SGB VIII ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden. Dadurch ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen in den Fällen, in denen die Hilfen vom Leistungsberechtigten abweichend von den Absätzen 1 und 2 selbst beschafft werden, nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht angelehnten Leistung keinen Aufschub geduldet hat (§ 36 a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII).

Für die Zeit vom 02. Juni bis zum 24. Oktober 2005 war die Klägerin hiernach nicht zur Selbstbeschaffung berechtigt. Ihr war vielmehr zuzumuten, die Deckung ihres Bedarfs bis zur Entscheidung der Beklagten hinauszuschieben.

Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Hilfebedarf erst an die Beklagte herangetragen hatte (14. Juni 2005), als sie sich die Hilfe bereits beschafft hatte (02. Juni 2005), und sie insofern eine rechtzeitige Antragstellung aus von ihr zu vertretenden Gründen unterlassen hat. Die Beklagte hat, ohne dass dies zu beanstanden wäre, nach Antragseingang verschiedene fachliche Stellungnahmen eingeholt (vgl. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) du nach deren Vorliegen geprüft, ob Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII erfüllt sind. Am 24. Oktober 2005 hat die Beklagte, nachdem unter dem 20. Oktober 2005 noch ein Gespräch mit der Klägerin durch eine Sozialpädagogin durchgeführt worden war, in angemessener Frist und daher rechtzeitig über den Antrag auf Eingliederungshilfe entschieden, so dass sich ein unaufschiebbarer Bedarf nicht aus einem „Zuwarten“ der Beklagten mit der Bescheidung des Antrags ergab.

II. Für die Zeit nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten vom 24. Oktober 2005, d.h. ab dem 25. Oktober 2005, hat die Klägerin hingegen einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Dyskalkulietherapie.

Gemäß § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2).
Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin erfüllt.

1. Dabei begründet das Vorliegen einer Rechenschwäche als solche zwar nicht bereits das Abweichen der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand. Das ist aber dann der Fall, wenn es als Sekundärfolge der Dyskalkulie zu einer seelischen Störung oder psychosomatischen Reaktion des Kindes oder Jugendlichen kommt. So verhält es sich hier.

a) Vor Beginn der selbst beschafften Dyskalkulietherapie am 02. Juni 2005 bzw. bei Ablehnung der Eingliederungshilfe durch die Beklagte am 24. Oktober 2005 lag bei der Klägerin eine Dyskalkulie vor. In der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10) der WHO wird Dyskalkulie in Abschnitt 81.2 definiert als „umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden“.
Dass die Klägerin nicht allgemein intelligenzgemindert ist, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Insoweit wurde sowohl im Bericht des ZTR Halle-Leipzig vom 31. Mai 2005 als auch in der psychologischen Stellungnahme der sachverständigen Zeugin Mayer vom 22. Juli 2005 und der fachärztlichen Stellungnahme vom 25. August 2005 sowie im Gutachten des Sachverständigen Prof. Blanz vom 05. Februar 2007 ausgeführt, dass die Klägerin über eine durchschnittliche bzw. überdurchschnittliche intellektuelle Befähigung verfüge.

Die Kammer ist zudem davon überzeugt, dass bei der Klägerin eine umschriebene Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten vorlag. In der Stellungnahme des ZTR Halle-Leipzig vom 31. Mai 2005 hat der sachverständige Zeuge Dr. Steffen plausibel und überzeugend die sich in der Auswertung des mit der Klägerin am 25. Mai 2005 durchgeführten Tests ergebende Diagnose, dass bei der Klägerin eine mediale isolierte Dyskalkulie (ICD-10 F 81.2) vorliege, dargelegt und begründet sowie die angewandte Testmethode erläutert. Darin ist ausgeführt, dass der kardinale Zahlbegriff rudimentär entwickelt und insbesondere das Verständnis für abstrakte Differenzen defizitär sei. Dies wurde durch begriffsloses Antrainieren und Memorieren von Aufgaben, Ergebnissen und algorithmischen Schritten und sonstigen Regeln sowie Verfahrenstechniken kompensiert. Die Klägerin könne dabei auf das Zählen in Einerschritten vollständig verzichten und rechne rein schematisch ohne Verständnis für die abstrakten Werte und Wertbeziehungen sowie für die Sachlogik der Arithmetik. Das führe dazu, dass der Klägerin einerseits sachlogische Begründungen und Kontrollen ihrer Rechenschritte nicht möglich seien und sie andererseits die begriffslos antrainierten Rechenregeln teilweise subjektiv abwandle. Diese Feststellungen habe er aufgrund einer qualitativen Fehleranalyse getroffen. Hierbei gebe der Proband Auskunft über seine Rechenwege, so dass subjektive (falsche oder umständliche) Algorithmen ermitteln ließen. Aus diesen Algorithmen – verglichen mit den mathematisch sachlogischen – ließen sich Rückschlüsse auf das Verständnis mathematischer Inhalte und Operationen erzielen, wodurch Lerndefizite sichtbar würden, und sich die Systematik der Rechenfehler aufschlüsseln und erklären lasse. Daneben träten Verhaltensbeobachtungen von Mimik, Gestik und Körpersprache, die Rückschlüsse zuließen, ob die Kommentare der Probanden die wirkliche Vorgehensweise treffen. Hinzu komme schließlich eine qualitative Analyse der Handlungstechniken auf der konkret-handelnden Ebene. Rechenschwäche lasse sich bereits auf der Handlungsebene als apraktische Umgangsform mit Veranschaulichungsmitteln nachweise (etwa Nachzählen von Zehnerstangen).

In der mündlichen Verhandlung hat der sachverständige Zeuge Dr. Steffen nochmals anschaulich erläutert, auf welchen Grundlagen und Erkenntnissen das durchgeführte Testverfahren aufbaut und weshalb bei der Klägerin vom Vorliegen einer Dyskalkulie auszugehen gewesen sei. Insbesondere die Ausführungen zur Erforderlichkeit einer qualitativen Fehleranalyse, die – anders als die standardisierten Testverfahren – auch den Rechenweg in den Bick nimmt, sind überzeugend.

Die getroffenen Feststellungen werden durch den Zeugen Schubert, der die Klägerin in der Zeit vom 02. Juni 2005 bis zum 05. Juli 2007 therapiert hat, gestützt. Dieser hat glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass sich die vor Beginn der Therapie gestellte Diagnose bestätigt habe, insbesondere dass die Klägerin eine „begriffslose Schematikerin“ gewesen sei und das dekadische System nicht verstanden, sondern mit Zahlen und Ziffern jongliert habe wie mit chinesischen Zeichen.
Letztlich geht auch die fachliche Stellungnahme der Schule vom 29. Juni 2005 in diese Richtung, worin ausgeführt ist, dass die Klägerin Zahlen und Rechenglieder vertausche und Algorithmen unabhängig davon anwende, ob diese passend seien.

Soweit die sachverständigen Zeuginnen Boltze und Mayer aufgrund der am 06. und 11. Juli 2005 durchgeführten Tests zu dem Ergebnis gekommen sind, dass bei der Klägerin eine isolierte Rechenschwäche nicht vorliege, vermag dies das gefundene Beweisergebnis nicht zu erschüttern. Die von der Diplompsychologin Mayer durchgeführten Tests (RAVEN und HAWIK) sind – wie sie in der mündlichen Verhandlung selbst einräumte – Intelligenztests zur Feststellung des allgemeinen Leistungsvermögens, nicht aber speziell zur Feststellung des Vorleigens einer Rechenstörung. Der von der Zeugin Boltze durchgeführte Schweizer Rechentest ist ein standardisierter Test, der – wie der Zeuge Dr. Steffen plausibel dargelegt und auch die Zeugin Boltze eingeräumt hat – darunter leidet, dass er lediglich die Ergebnisse der gestellten Aufgaben betrachtet und insoweit ausgeblendet wird, wie der Proband zu dem Ergebnis gelangt ist. D.h. es werden danach im Ergebnis richtige Lösungen positiv bewertet, auch wenn der Rechenweg falsch ist. Die Zeugin Boltze hat zwar dargelegt, sie habe abweichend davon die der Klägerin im Test gestellten Aufgaben mit dieser besprochen und nur diejenigen als „richtig gelöst“ bewertet, in denen die Klägerin den korrekten Lösungsweg gefunden habe. Die Darlegungen waren indes nicht von der Substanz und Überzeugungskraft, dass das Gericht Anlass hätte, an den schlüssigen, nachvollziehbaren und überzeugenden Feststellungen des sachverständigen Zeugen Dr. Steffen zu zweifeln. Hinzu kommt, dass die Zeugin teilweise unsicher wirkte. Auch konnte sie einen Grund dafür, dass sie die von der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung begehrte Einsicht in die vorliegenden Testunterlagen zunächst nachhaltig verweigerte, nicht nennen.

Soweit die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Kühn in ihrer Stellungnahme vom 25. August 2005 ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt ist, eine isolierte Dyskalkulie liege bei der Klägerin nicht vor, vermag auch dies das gefundene Beweisergebnis nicht erschüttern. Denn die Stellungnahme erschöpft sich im Wesentlichen in der Wiedergabe der von anderer Stelle erstellten Befunde, ohne nachvollziehbar zu erläutern, wie der eigene Befund ermittelt wurde.

Eine andere Beweiswürdigung ist schließlich nicht im Hinblick auf die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Blanz im Gutachten vom 05. Februar 2007 geboten, wonach bei der Klägerin eine isolierte Dyskalkulie nicht vorliege. Denn diese Feststellungen beziehen sich auf den Untersuchungszeitpunkt 30. Januar 2007, als die Klägerin bereits mehr als 1 ½ Jahre an der Dyskalkulietherapie im ZTR Halle-Leipzig teilgenommen hatte. Die Klägerin hat insoweit eingeräumt, dass zu diesem Zeitpunkt die Dyskalkulie im Wesentlichen beseitigt, jedoch der Anschluss an den Schulstoff noch nicht erreicht war. Der sachverständige Zeuge Dr. Steffen hat zudem dargelegt, dass zu diesem Zeitpunkt die im Mai 2005 gestellte Diagnose derart nicht mehr hätte gestellt werden können, weil bei der Klägerin durch die Therapie das kardinale Zahlenverständnis inzwischen vorhanden gewesen sei. Soweit der Sachverständige Prof. Blanz ausgeführt hat, dass aus klinischer Sicht unwahrscheinlich sei, dass vor dem Untersuchungszeitpunkt bei der Klägerin eine Dyskalkulie vorgelegen habe, weil es untypisch sei, dass ein Kind in den ersten Schuljahren im Mathematikunterricht gute Noten erziele, wenn es an einer Rechenschwäche leide, hat der sachverständige Zeuge Dr. Steffen dies plausibel damit begründet, dass betroffene Kinder (fehlerhafte) Strategien entwickelten, um ihre Schwächen zu kompensieren, mit der Folge, dass die Rechenschwäche zunächst unerkannt bleibe.

b) Zu Überzeugung der Kammer steht auch fest, dass die Rechenschwäche bei der Klägerin zu einer seelischen Störung geführt hat, die vor Beginn der Therapie bzw. im Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung der Beklagten im Oktober 2005 bereits länger als sechs Monate vorlag und daher ihre seelische Gesundheit von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abwich.

So hatte die Klägerin gegenüber dem sachverständigen Zeugen Dr. Steffen im Rahmen ihrer Untersuchung am 25. Mai 2005 angegeben, dass sie Angst vor dem Mathematikunterricht habe und sie von den Mitschülern gehänselt, ausgelacht und ausgegrenzt werde und sich insbesondere vor der Arbeit an der Tafel fürchte. Dies deckt sich mit den Feststellungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Beklagten vom 15. Juni 2005. Die Klägerin hatte zudem Anfang 2005 in der Schule mehrfach Suizidabsichten geäußert. So hatte sie dies zum einen in den Schnee geschrieben. Zum anderen fand sich eine entsprechende Äußerung im Mathematikheft. Schließlich haben die untersuchenden Ärzte der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Halle bereits im April 2005 und später auch der Sachverständige Prof. Blanz im Gutachten vom 05. Februar bei der Klägerin eine Anpassungsstörung mit depressiver Störung, eine Störung sozialer Funktionen und Essattacken diagnostiziert. Der Sachverständige Prof. Blanz hat zudem dargelegt, dass – läge eine Rechenstörung bei der Klägerin vor – die letztgenannten psychischen Störungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch darauf zurückzuführen seien.

2. Aufgrund des Abweichens der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand war bei der Klägerin auch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Dies ist nicht bereits anzunehmen bei bloßen Schulproblemen und Schulängsten, die andere Kinder und Jugendliche teilen, allerdings bei einer Vereinzelung in der Schule (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 – 5 C 38/97 -, FEVS 49, S. 487). So liegt es zur Überzeugung der Kammer hier. Nach übereinstimmenden Feststellungen des sachverständigen Zeugen Dr. Steffen und des Sachverständigen Prof. Blanz wurde die Klägerin in der Schule infolge ihrer Schwächen im Mathematikunterricht ausgelacht, verspottet, gehänselt und ausgegrenzt. Entsprechende Feststellungen finden sich auch in der Stellungnahme des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Beklagten vom 15. Juni 2005. Ebenso ist in der schulischen Stellungnahme vom 29. Juni 2005 ausgeführt, dass die Klägerin eine Außenseiterposition in der Klasse und bislang Freundschaften nicht gefunden habe.

3. Die Dyskalkulietherapie bzw. die Übernahme der entsprechenden Kosten kann auch als Eingliederungshilfe beansprucht werden. Gemäß § 35 a Abs. 2 und 3 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall gewährt und bestimmt sich nach den §§ 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe gehört danach auch die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII).
Die Dyskalkulietherapie ist eine geeignete und notwendige Hilfe, um der Klägerin eine angemessene Schulbildung zu ermöglichen. Nach den Ausführungen des sachverständigen Zeugen Dr. Steffen in dem Bericht des ZTR Halle-Leipzig vom 31. Mai 2005 ist Ziel der Therapie die Abwendung bzw. Prävention einer durch Dyskalkulie verursachten seelischen Behinderung. Da die Dyskalkulie das Resultat eines im Laufe der Zeit kumulierten mathematischen Wissensdefizits sei, sei es zum Erreichen des genannten Ziels zwingend erforderlich, den aktuellen mathematischen Wissenstand zu diagnostizieren und den Anschluss an den aktuellen mathematischen Schulstoff im Verlauf der Therapie zu erreichen, so dass dem schulischen mathematischen Lernangebot im Selbstkonzept gefolgt werden könne. Andernfalls bestehe die große Gefahr, dass die mathematische Lernstörung mit negativen und sozialintegrativen Folgewirkungen erneut aufbreche, da die Verständnisvoraussetzungen für den aktuellen Lernstoff weiterhin fehlten.

Vor dem Hintergrund dieser schlüssigen und überzeugenden Darlegungen ist es notwendig, die Therapie als erforderliche Eingliederungshilfe bis zum Anschluss an den aktuellen Schulstoff, der nach den unbestrittenen Darlegungen der Klägerin noch nicht erreicht ist, fortzusetzen, um einen Rückfall, der weitere kostenintensive Eingliederungshilfen notwendig macht, zu verhindern. Das gilt selbst dann, wenn aufgrund des bislang eingetretenen Erfolgs und des Fortschritts der Therapie eine seelische Störung nicht mehr vorliegen würde. Der Fortbestand der Eingliederungsgewährung rechtfertigt sich insofern daraus, dass es geboten ist, die Dyskalkulietherapie fortzusetzen, um die Wirksamkeit der zuvor gewährten Hilfe zu sichern (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 28. September 1995 – 5 C 21/93 -, FEVS 46, S. 360).

Schließlich scheitert der Kostenübernahmeanspruch der Klägerin für die Zeit nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten nicht aus Gründen der unzulässigen Selbstbeschaffung. Denn es war der Klägerin nach der – zu Unrecht – erfolgten Ablehnung der Eingliederungshilfe durch die Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 2005 im Hinblick auf die Unabsehbarkeit des Zeitpunkts einer gerichtlichen Entscheidung nicht zuzumuten, ihren Hilfebedarf bis zu einer gerichtlichen Entscheidung aufzuschieben. Insoweit war sie zur effektiven Durchsetzung ihres Jugendhilfeanspruchs auf die Selbstbeschaffung der Leistung angewiesen.
(…)