OVG Berlin-Brandenburg 2008

Abschrift
OBERVERWALTUNGSGERICHT
BERLIN-BRANDENBURG
BESCHLUSS
OVG 6 S 2.08
7 L 551/07 Potsdam
In der Verwaltungsstreitsache
der mdj. XXX, vertreten durch die Eltern XXX und XXX
Antragstellerin und Beschwerdeführerin,
bevollmächtigt:
Rechtsanwältin XXX
gegen
den Landrat des Landkreises XXX
Antragsgegner und Beschwerdegegner
hat der 6. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht XXX, die Richterin am Oberverwaltungsgericht XXX und den Richter am Oberverwaltungsgericht XXX am 17. Juni 2008 beschlossen:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 9. Januar 2008 geändert:
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Kosten der von der Antragstellerin durchgeführten Dyskalkulie-Therapie im Umfang von 4 Stunden pro Monat bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis Ende April 2009 zu übernehmen.

Der Antragsgegner hat die Kosten des gerichtkostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg. Nach dem für den Senat gemäß § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO
maßgeblichen Beschwerdevorbringen ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet. Der angefochtene Beschluss war somit wie aus dem Tenor ersichtlich zu ändern. Die Antragstellerin hat den für die begehrte einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.
1. Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Kenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 vorliegt, ist nach § 35a Abs. 1a SGB VIII durch eine dafür besonders qualifizierte Person auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIM-DI) herausgegebenen deutschen Fassung (ICD-10-GM) festzustellen.
a) Nach den eingereichten ärztlichen, kinderpsychologischen und schulischen Stellungnahmen ist davon auszugehen. dass bei der Antragstellerin eine länger als sechs Monate andauernde Abweichung ihrer seelischen Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegt; sie leidet u. a. an einer sog. kognitiven Teilleistungsstörung in Form einer Dyskalkulie (F 81.2). Eine derartige Teilleistungsstörung ist unter der genannten Ziffer der Internationalen Klassifikation der Krankheiten wie folgt definiert: „… Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Es handelt sich um Störungen bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen. Die Rechenstörung besteht in einer… Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten …“ (vgl. die im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit vom DIMDI herausgegebene Referenzfassung der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – ICD-10- GM – Version 2008 -, unter www.dimdi.de).
Insbesondere die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dipl.~Med. XXX, die die Qualifikationsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 SGB VIII erfüllt, bescheinigt in ihrer, dem erstinstanzlichen Gericht noch nicht vorliegenden Stellungnahme vom 21. Dezember 2007 ausdrücklich unter Verwendung der Internationalen Klassifikation F 81.2 das Vorliegen einer Rechenstörung. In ihrer Stellungnahme führt sie u.a. aus: Die Antragstellerin weise eine altersdurchschnittliche Intelligenz (91 Punkte nach HAWIK-IV} auf. Nach dem Test zur Ermittlung der Rechenleistungen (ZAREKI-R) habe sie 86 Punkte und einen Prozentrang von unter 1 erreicht. Die Kriterien für die Annahme einer Dyskalkulie seien erfüllt. Zum selben Ergebnis einer Teilleistungsstörung in Mathematik (mit einem Prozentrang von unter 1) sowie von durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten der Antragstellerin war bereits die an der von der Antragstellerin besuchten Schule für Schüler mit erheblichen Rechenschwächen zuständige Sonderpädagogin Frau XXX in ihrem Bericht vom 1. September 2005 (vgl. auch die ergänzende Stellungnahme vom 10. Januar 2007) gekommen; der Bericht wurde durch die schulpsychologische Beratungsstelle des staatlichen Schulamts XXX mit Schreiben vom 20. März 2006 bestätigt. Auch die Stellungnahmen der Klassenlehrerin Frau XXX vom 10. Januar 2006 und 3. Juli 2007 belegen, dass die Antragstellerin ausschließlich im mathematischen Bereich massive Probleme hat und sonst keine Lernbehinderungen zeigt; ihre übrigen schulischen Leistungen werden als gut bis befriedigend beschrieben. Diese Aussagen werden gestützt durch die eingereichten Schulzeugnisse der Antragstellerin, wonach ausschließlich gravierende Probleme im Fach Mathematik bestehen, die dazu geführt haben, dass ihre Rechenleistungen bislang nicht bewertet werden konnten. Wenn eine Benotung stattgefunden hätte, wäre nach der Leistungs-/Zensurenübersichten der Klassenlehrerin vom 10.. Januar 2006 und 3. Juli 2007 die Note 5 oder 6 zu vergeben gewesen. In allen anderen Fächern und bei den sog. Kopfnoten hat die Antragstellerin überwiegend befriedigende, gute und vereinzelt auch sehr gute Noten bekommen (vgl. Zeugnisse der Klasse 3 c vom 11. Juli 2007 und 4 c vom 1. Februar 2008).
Angesichts der qualifizierten Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dipl.-Med. XXX und der auf langjährigen Beobachtungen beruhenden Einschätzungen der schulischen Lehr- und Betreuungskräfte, die übereinstimmend und durch die eingereichten Zeugnisse nachvollziehbar von einer altersgerechten schulischen Leistungsfähigkeit sowie einer durchschnittlichen Intelligenz der Antragstellerin berichten, vermag die Einschätzung von XXX vom 25. August 2006 nicht zu überzeugen. Danach soll die Antragstellerin bei einer defizitären intellektuellen Leistungsausstattung (83 Punkte nach HAWIK-R) nur über geringfügig unterdurchschnittliche rechnerische Denkfähigkeiten verfügen und (lediglich) eine allgemeine Lernschwäche aufweisen. Gerade die letztgenannte Aussage wird jedoch durch die in der Schule gemachten Beobachtungen widerlegt, denen der Senat wegen des langjährigen Betrachtungszeitraums unter alltäglichen Beobachtungsbedingungen während des Schulbetriebs, ohne den möglicher Weise das Ergebnis beeinflussenden „Stressfaktor“ einer extern durchgeführten Untersuchungssituation, eine besonders hohe Verlässlichkeit und Aussagekraft beimisst.
Auch die Stellungnahme von Frau XXX vom 26. Januar 2007, ergänzt und erläutert unter dem 4. Oktober 2007, steht der Annahme einer Dyskalkulie nicht entgegen; denn auch danach waren deutliche Hinweise auf eine Rechenschwäche (31 Punkte nach Potsdamer Rechentest, bei einem Grenzrang von 35 und einem Durchschnittswert von 50 Punkten) feststellbar. Zwar ist Frau XXX wegen der nach ihrer Ansicht fehlenden Diskrepanz zwischen Teilleistungsstörung und festgestellter Gesamtintelligenz von einer bloßen Rechenschwäche ausgegangen; dennoch hat sie deren therapeutische Behandlung für dringend erforderlich gehalten.
b) Die Antragstellerin hat ferner glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund der altersuntypischen Abweichung ihrer seelischen Gesundheit in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt, zumindest aber eine solche Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Daher sind auch die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 SGB VIII gegeben. Diesbezüglich hat die Klassenlehrerin mit Schreiben vom 10. Januar 2006 mitgeteilt, dass das Selbstwertgefühl der Antragstellerin unter den massiven Problemen im Fach Mathematik ganz erheblich leide, weshalb sie oft weine. Unter dem 3. Juli 2007 hat sie ergänzend berichtet, dass sich die Misserfolge der Antragstellerin in Mathematik zunehmend belastend auf ihre gesamte Lerneinstellung auswirken würden und ihre Motivation immer problematischer werde. Sie habe erkannt, dass ihre Fähigkeiten nicht dem Standard
entsprechen und ständiges häusliches Üben sowie die Teilnahme am schulischen Förderunterricht keine nachweislichen Lernerfolge zeigen. Sie resigniere immer öfter und leide psychisch enorm unter ihrem Versagen. Sie benötige unbedingt eine individuel1e Förderung.
Auch die Sonderpädagogin Frau XXX hat bestätigt, dass die Antragstellerin unter ihrer erheblichen Rechenschwäche leide und unter psychischem Druck stehe. Sie sei sich ihrer Schwäche bewusst, könne sich so aber nicht annehmen. was starke psychische Belastungen zur Folge habe. Die Horterzieherin, die die Antragstellerin seit drei Jahren regelmäßig betreut, hat unter dem 2. Oktober 2007 ausgeführt, dass die Antragstellerin wegen ihrer von Anfang an bestehenden großen Schwierigkeiten in Mathematik, die sie selten ohne Hilfe lösen könne, oft deprimiert sei, weine, über Kopfschmerzen klage sowie vor Beginn der Hausaufgabenstunde Angst, Unruhe und Aggressivität äußere. Ähnliches hat der Lebensgefährte der Großmutter der Antragstellerin, Herr XXX, mit Schreiben vom 8. Oktober 2007 berichtet. Danach werde die Antragstellerin in der Schule wegen ihrer Probleme im Rechnen gehänselt. Bei den Hausaufgaben im Fach Mathematik weine sie oft und resigniere schnell. Sie klage über gesundheitliche Beschwerden (Schwindel, Übelkeit, Kopf- und Bauchschmerzen) und wolle an Tagen, an denen der Mathematikunterricht früh beginne, den Schulbesuch verweigern. Frau Dipl.-Med. XXX hat in ihrem bereits zitierten Gutachten diesbezüglich diagnostiziert. dass die Antragstellerin offensichtliche depressive Tendenzen aufweise.
Ihre manifeste Angst sei überdurchschnittlich hoch, die Schulunlust ebenfalls leicht erhöht.
Sie zeige ein nicht dem Lebensalter entsprechendes Verhalten und sei aufgrund ihrer Teilleistungsstörung an der Teilhabe am Leben beeinträchtigt. Es bestehe eine soziale Integrationsstörung durch erhöhte Schulbelastung; es drohe eine seelische Behinderung. Bereits diese Aussagen lassen den Schluss zu, dass die emotionalen und sozialen Auswirkungen der Entwicklungsstörung zu einer nicht nur vorübergehenden und wesentlichen seelischen Behinderung der Antragstellerin geführt haben, zumindest aber, dass eine solche mit dem in § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII geforderten hohen Wahrscheinlichkeitsgrad droht. Diese Schlussfolgerung wird schließlich durch die sich im Frühjahr 2008 weiter verschlechternde seelische Verfassung der Antragstellerin und den daraufhin vom Träger der Rentenversicherung bewilligten sowie von vier auf sechs Wochen verlängerten Aufenthalt der Antragstellerin in einer Rehabilitationsklinik weiter bestärkt. Die dortige Chefärztin Frau XXX hat der Antragstellerin ebenfalls eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung sowie ein Kopfschmerzsyndrom attestiert, bei der sich aufgrund der Rechenstörung bei im Übrigen sehr gutem Potential eine deutliche Angstsymptomatik manifestiert habe. Auch Frau XXX hält die Fortsetzung der begonnenen Rechentherapie beim ZTR für dringend notwendig im Sinne von § 35a SGB VIII.
Die geschilderten Sekundärfolgen der Rechenstörung der Antragstellerin gehen nach Intensität und Dauer über bloße „normale“ Schulprobleme und -ängste hinaus, die auch andere Kinder mitunter teilen, jedoch überwinden können. Letzteres ist bei der Antragstellerin offensichtlich nicht der Fall. Angesichts des Ziels der Eingliederungshilfe für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, bereits den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten (vgl. §: 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 53 Abs. 3 SGB XII), haben Erfolg versprechende Eingliederungsmaßnahmen so früh einzusetzen, dass der Eintritt der Behinderung noch abgewendet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 – 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487; VG Braunschweig, Urteil vom 23. Mai 2002 – 3 A 347/01 -, juris), also nicht erst dann, wenn bereits Auffälligkeiten eingetreten sind, die einer jugendpsychiatrischen Behandlung bedürfen. Deshalb würden die Anforderungen für die Annahme einer drohenden Behinderung hier überspannt, wenn zunächst der Eintritt einer völligen Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder ein Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule festzustellen wäre.
Soweit der Antragsgegner meint, dass die Rechenprobleme der Antragstellerin nicht hauptursächlich für deren Angstzustände seien, sondern diese, im frühen Kindesalter angelegten emotionalen Störungen lediglich verstärkt hätten, kann sich diese Ansicht lediglich auf die – auch insofern nicht überzeugende – Stellungnahme von XXX stützen. Dies braucht jedoch nicht weiter vertieft zu werden, da aus den anderen Stellungnahmen eindeutig hervorgeht, dass die Antragstellerin ohne die Rechenstörung keine bedeutsame Abweichung ihres Gesundheitszustands aufweisen würde. Eine überwiegende Kausalität der Teilleistungsstörung für die festgestellte seelische Störung verlangt das Gesetz nicht; vielmehr geht bereits aus der Klassifikation der WHO hervor, dass eine schulische Entwicklungsstörung zu den anspruchsbegründenden psychischen Störungen zu zählen ist, wenn sie – wie hier – zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt oder eine solche droht.
c) Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist auch nicht ersichtlich, dass die erstrebte und seit April 2007 durchgeführte Einzeltherapie im Falle der Antragstellerin eine ungeeignete oder überzogene Maßnahme der Eingliederungshilfe wäre. Die Antragstellerin hat bereits seit Mitte des ersten Schuljahres im Fach Mathematik durchgehend einen auf zwei mal zwei Wochenstunden aufgestockten Förderunterricht in der Schule (Kleingruppenarbeit) erhalten, der jedoch wegen des Ausmaßes und der Besonderheit der zugrunde liegenden Funktionsschwäche sowie wegen der bereits eingetretenen sekundären Beeinträchtigungen offensichtlich nicht ausreicht, um bei der Überwindung der Teilleistungsstörung zu helfen. Insbesondere wegen der geschilderten Versagensängste der Antragstellerin vor ihren Mitschülern kann eine Arbeit in der Gruppe die gebotene Einzeltherapie nicht ersetzen; wegen der zusätzlichen Belastung der Antragstellerin (vgl. dazu die im Beschwerdeverfahren eingereichte – undatierte – eidesstattliche Versicherung der Mutter) wäre vielmehr zu überdenken, ob diese zusätzliche Förderung weiterhin sinnvoll ist. Dass die Antragstellerin aufgrund der vor rund einem Jahr begonnenen Dyskalkulie-Therapie Fortschritte in Mathematik gemacht hat, geht aus dem letzten Halbjahreszeugnis hervor und wird durch die Dyskalkulie-Therapeutin XXX im 2. Zwischenbericht vom 4. Oktober 2007 bestätigt.
Dem Anspruch der Antragstellerin kann kein grundsätzlicher Nachrang der Leistungen des Trägers der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber den Leistungen der Schule entgegengehalten werden (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Zwar ist die schulische Förderung von Kindern in erster Linie Aufgabe der Schulen (vgl. Wiesner in: Wiesner, SGBVIII, Kinder- und Jugendhilfe, 3. Aufl., § 35a Rn. 43). Wenn aber wie im Falle der Antragstellerin eine schulische Förderung nicht ausreicht, der Ursache der seelischen Behinderung wirkungsvoll zu begegnen, ist Eingliederungshilfe zu gewähren.
Soweit der Antragsgegner meint, dass – statt der Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII – eine Hilfe (der Erziehungsberechtigten) zur Erziehung nach § 27 SGB VIII der richtigere Therapieweg für die Antragstellerin sei, ist darauf hinzuweisen, dass sich beide Hilfeformen nach der gesetzlichen Konzeption in § 35a Abs. 3 SGB VIII nicht ausschließen, sondern ergänzen(vgl. § 35a Abs. 4 SGB VIII; ferner Vondung in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 35a Rn. 3 und 9; Wiesner, a.a.O., Rn. 34f.). Deshalb kann Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII unabhängig davon in Anspruch genommen werden, ob und ggf. in welchem Umfang daneben Hilfe zur Erziehung in Betracht kommt. Sofern der Antragsgegner neben der gebotenen Eingliederungshilfe weitere Hilfeformen (z. B. die von Frau XXX vorgeschlagene familientherapeutische Maßnahme) für geeignet und erforderlich hält, wäre ein ergänzendes Angebot – auch ohne ausdrücklichen Antrag (vgl. dazu Hinrichs, ZFSH/SGB 2004, 420) – geboten.
d) Dass sich die Eltern der Antragstellerin schon während des Verwaltungsverfahrens entschlossen haben, die erforderliche Therapie im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts (§ 5 SGB VIII) selbst zu organisieren und vorzufinanzieren (Selbstbeschaffung), steht dem geltend gemachten Anspruch gemäß § 36a Abs. 3 SGB VIII schließlich nicht entgegen. Angesichts des zwischen Antragstellung und Erlass des die gebotene Leistung ablehnenden Bescheids verstrichenen – unangemessen langen – Zeitraums von einem Jahr, was auch zu dienstaufsichtsrechtlichen Maßnahmen durch die Amtsleitung führte, und der sich bei der Antragstellerin deutlich abzeichnenden Sekundärfolgen der Rechenstörung war ihr ein weiteres Abwarten nicht zumutbar. Der Antragsgegner hatte ausreichend Zeit, über den rechtzeitig an ihn herangetragenen Hilfebedarf positiv zu entscheiden. Den nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (seit Urteil vom 11. Februar 1982 – 5 C 85.80 – BVerwGE 65, 52) ohnehin nur im Rahmen anderer geeigneter Maßnahmen zum Tragen kommenden Mehrkosteneinwand nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat er nicht erhoben.
2. Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht, weil ohne die Fortsetzung der Therapie die Gefahr besteht, dass sich die psychischen Beeinträchtigungen der Antragstellerin weiter verstärken. Daher kann der Antragstellerin ein Zuwarten mit der gebotenen Therapie bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden. Der Dringlichkeit der Entscheidung steht auch nicht entgegen, dass die Eltern der Antragstellerin die Therapiekosten bislang übernommen haben; denn sie haben dargelegt, dass ihnen dies finanziell nicht länger möglich ist. Die Begrenzung der vorläufigen Hilfegewährung auf insgesamt maximal zwei Jahre beruht einerseits auf der ungewissen Dauer des Hauptsacheverfahrens, andererseits auf der Einschätzung des ZTR vom 29. Juni 2007 über den voraussichtlich erforderlichen Therapiezeitumfang von ca. 80 Fachleistungsstunden, mithin eines prognostizierten Gesamtzeitraums von längstens zwei Jahren. Bis dahin besteht gegebenenfalls Gelegenheit, die Antragstellerin erneut begutachten zu lassen und – falls noch erforderlich – einen Hilfeplan nach § 36 SGB VIII zu erstellen. Auch Frau Dipl.-Med. XXX hatte eine Überprüfung des Lernfortschritts nach einem Jahr empfohlen.
3. Die Kostenentscheidung für das gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfreie Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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