OVG Sachsen 24.01.2012

Abschrift
AZ.: 1 A 514/11 5 K 904/09

SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

Des minderjährigen Kindes xxx
vertreten durch die Eltern xxx

– Klägerin –
– Antragsgegnerin –

prozessbevollmächtigt:
xxx

gegen

die Stadt xxx
vertreten durch den Oberbürgermeister xxx
– Beklagte –
– Antragstellerin –

wegen

Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII
hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht xxx, die Richterin am Oberverwaltungsgericht xxx und den Richter am Oberverwaltungsgericht xxx

am 24. Januar 2012

beschlossen:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 27. Januar 2011 – 5 K 904/09 – wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagte hat nicht gemäß § l24a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt, dass ein Zulassungsgrund vorliegt. Das Darlegungserfordernis verlangt, dass ein Antragsteller im Zulassungsverfahren zum einen zumindest einen Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 VwGO bezeichnet und zum anderen herausarbeitet, aus welchen Gründen die Voraussetzungen des bezeichneten Zulassungsgrundes erfüllt sind. Das Oberverwaltungsgericht ist bei seiner Entscheidung über die Zulassung der Berufung darauf beschränkt, das Vorliegen der von dem Antragsteller bezeichneten Zulassungsgründe anhand der von ihm vorgetragenen Gesichtspunkte zu prüfen.

2. Die von der-Beklagten genannten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

3. Das Verwaltungsgericht hat der Klage der Klägerin stattgegeben und einen Anspruch auf Übernahme der in der Zeit vom 1. August 2008 bis zum 30. November 2010 entstandenen Kosten gemäß § 35a SGB VIII für die Dyskalkulie-Therapie bejaht. Es habe eine seelische Behinderung gedroht und es sei darüber hinaus auch die konkrete Gefahr und die hohe Wahrscheinlichkeit einer darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung gegeben gewesen. Die Feststellung der kausalen Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei vom Jugendamt aus eigener Sachkunde zu treffen. Sie obliege ausschließlich den pädagogischen Fachkräften auf Basis des Gutachtens nach § 35a Ab. 1a SGB VIII. Die Bestimmung des Behindertenbegriffs verbleibe damit letztlich im Verantwortungsbereich des Jugendamtes. Allerdings unterliege der unbestimmte Rechtsbegriff der seelischen Behinderung der vollen gerichtlichen Kontrolle. Jedoch sei hier die Regelvermutung, dass Teilleistungsstörungen auch eine zumindest drohende Teilhabebeeinträchtigung i. S. d. § 35a SGB VIII nach sich ziehen, nicht für alle Teilbereiche widerlegt worden. Dies sei hier erforderlich, weil eine drohende Beeinträchtigung der Teilhabe, in einem für das Kind bedeutsamen Bereich verbleibe.

4. Die Beklagte wendet ein, das Verwaltungsgericht habe sich in Bezug auf die Begründung der Teilhabebeeinträchtigung nur auf den häuslichen Bereich beschränkt und die Integrationsfähigkeit der Klägerin im Übrigen zu wenig gewürdigt. Die seitens der Klägerin und der Zeugin geschilderten häuslichen Probleme im familiären Bereich erforderten keine Hilfeleistung nach § 35a SGB VIII. Denn nur wenn ein Kind auf „mehreren Feldern“ (Familie, soziales Umfeld, Schule sowie Eigenverantwortlichkeit und Alltagsbewältigung) in seiner Teilhabefähigkeit beeinträchtigt sei, könne von einer seelischen Behinderung i. S. d. Vorschrift ausgegangen werden.

5. Diese Einwände führten nicht zur Zulassung der Berufung. Soweit die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGo hinweist, ist diese nicht dargelegt. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt vor, wenn eine grundsätzliche, höchstrichterlich oder vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht nicht beantwortete Frage aufgeworfen wird, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortbildung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf (vgl. Beschl. des Senats v. 31. März 2004 – 1 B 255/04 – und 2. Februar 2006 – 1 B 968/04 -). Die Darlegung dieser Voraussetzungen erfordert wenigstens die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, als auch für das Berufungsverfahren erheblich sein würde, und muss im Einzelnen aufzeigen, inwiefern das Verwaltungsgericht die Frage nach Auffassung des Antragstellers nicht zutreffend beantwortet hat. Daran gemessen ist die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob von einer seelischen Behinderung i. S. v. § 35a SGB VIII nur ausgegangen werden könne, wenn ein Leistungsantragsteller auf ,,mehreren Feldern“ (Familie, soziales Umfeld, Schule sowie Eigenverantwortlichkeit und Alltagsbewältigung) seiner Teilhabefähigkeit beeinträchtigt sei, nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Denn die Frage, wann von einer seelischen Behinderung auszugehen ist, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu das Folgende ausgeführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. November 1998, FEVS 49, 487, m. w. N.; BVerwG, Urt. v. 11. August 2005, BVerwGE 124, 83):

„(…)Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 35 a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII a.F. bzw. § 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII n.F. i. V. m. § 3 Satz 1 EinglhVO). Seelische Störungen können eine seelische Behinderung zur Folge haben (§ 3 Satz 2 EinglhVO), müssen es aber nicht. Seelische Störungen genügen also noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzukommen muß noch die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Deshalb ist (…) darin zuzustimmen, dass es für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störungen ankommt (…) Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, daß sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. (…).“

6. Daran gemessen ist für die Annahme einer Teilhabebeeinträchtigung nicht die Anzahl der betroffenen gesellschaftlichen Bereiche maßgeblich, sondern, dass die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen. Diese Maßstäbe hat das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seiner Entscheidung zugrunde gelegt, in dem es auch darauf abstellte, dass der familiäre Bereich für ein Kind einen wichtigen Bereich des gesellschaftlichen Lebens darstelle.

7. Schließlich liegt auch der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht vor. Zur Darlegung der Divergenz gehört der Vortrag, welchen entscheidungstragenden abstrakten Rechtssatz das erstinstanzliche Gericht aufgestellt hat und von welchem ebenfalls tragenden abstrakten Rechtssatz der höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Entscheidung damit abgewichen wird. Darüber hinaus ist darzulegen, worin die geltend gemachte Abweichung liegt und warum die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht.

8. Hinsichtlich der Darlegung einer Divergenz vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November l998 (a. a. O.) und den Beschlüssen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 9. Juni 2009 – 1 B 288/09 und v. 11. August 2005 – 5 BS 192/05 – sowie Beschl. v. 20. August 2009 – 1 B 432/09 -) fehlt es bereits an der Gegenüberstellung eines in dieser Entscheidung enthaltenen entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatzes zu einem entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz, durch den das Verwaltungsgericht abweichen soll. Die Beklagte hat insoweit lediglich eine Divergenz behauptet ohne dazulegen, worin die Abweichung bestehen noch warum die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruhen soll.

9. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGo und § 188 Satz 2 VwGO.

gez.:
xxx xxx xxx