SG Altenburg 29.07.2008

Abschrift
Sozialgericht Altenburg

Az.: S 9 R 796/06

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

Der XXX
– Klägerin –

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin XXX

gegen

die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland, XXX
– Beklagte –

hat die 9. Kammer des Sozialgerichtes Altenburg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 29.07.2008 durch ihre Vorsitzende, die Richterin am Sozialgericht XXX, sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn XXX und Herrn XXX

für Recht erkannt:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2006 verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Dyskalkulietherapie als Leistung zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Dyskalkulietherapie zu erbringen hat.

Die am 16.02.1982 geborene Klägerin verfügt über einen Hauptschulabschluss, jedoch nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Eine Ausbildung zur Kinderpflegerin brach sie ab. Danach war die Klägerin im Rahmen verschiedener Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Köchin, Sanitäterin, Putzfrau und Näherin tätig. Eine dauerhafte Anstellung ergab sich hieraus jedoch nicht.

Am 09.01.2006 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe in. Form von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.

Daraufhin zog die Beklagte einen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Ärztin, Frau Dr. XXX, vom 23.11.2005 bei. Danach leidet die Klägerin unter einem psychosomatischen Syndrom, einer sozialen Phobie sowie unter Dyskalkulie (Rechenschwäche).

Mit Bescheid vom 18.01.2006 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation mit der Begründung ab, es läge weder eine erhebliche Gefährdung noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vor.

Gegen diesen Ablehnungsbescheid legte die Klägerin am 09.02.2006 Widerspruch ein und verwies darauf, auf Grund einer gravierenden Dyskalkulie sei sie nicht in der Lage, eine Ausbildung zu absolvieren bzw. im Berufsleben Fuß zu fassen. Darunter, dass gegenwärtig keine Perspektive für ein berufliches Weiterkommen bestehe, leide sie auch psychisch. Schließlich sei auch die behandelnde Psychotherapeutin der Ansicht, dass eine medizinische Rehabilitation dringend angezeigt sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.02.2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die in § l0 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) normierten persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe seien im Falle der Klägerin nicht erfüllt.

Die Bevollmächtigte hat namens und in Vollmacht der Klägerin am 16.03.2006 Klage erhoben und trägt im Wesentlichen vor, die Klägerin begehre die Übernahme der Kosten einer Therapie zur Überwindung der seit ihrer Kindheit bestehenden Rechenschwäche. Seit August 2005 befände sie sich wegen ihrer sozialen Ängste in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Die Teilleistungsschwäche beeinträchtige die Klägerin auch psychisch. Ausbildungen zur Kinderpflegerin bzw. Verkäuferin habe sie abbrechen müssen.

Die Klägerin beantragt;

die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2006 zu verurteilen, ihr Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Dyskalkulietherapie als Leistung zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren.

Die Beklagte verbleibt bei ihrem bisherigen Standpunkt und beantragt;

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens auf nervenärztlichem Fachgebiet. Auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 23. und 24.04.2007 hat der Sachverständige Dr. XXX, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Sozialmedizin, die nachfolgend aufgeführten wesentlichen Gesundheitsstörungen mit Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin diagnostiziert:

– Dyskalkulie
– Soziale Phobie.

In seinem nervenärztlichen Fachgutachten vom 07.05.2007 schätzt Dr. XXX unter Berücksichtigung des testpsychologischen Zusatzgutachtens der Frau Diplom-Psychologin XXX ein, im Hinblick auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sei die Klägerin noch im Stande, körperlich mittelschwere Arbeiten unter Beachtung von Funktionseinschränkungen vollschichtig zu verrichten. Besondere Anforderungen an das Rechenvermögen dürften dabei allerdings nicht gestellt werden.

Auch sei eine besondere nervliche Belastung (Publikumsverkehr, Teamfähigkeit, soziale Kontaktaufnahme und Anpassungsfähigkeit) zu vermeiden. Im Übrigen bestünde begründete Aussicht, dass sich der Gesundheitszustand mit Auswirkung auf das Leistungsvermögen bessere. Zwar sei hinsichtlich der sozialen Phobie unter Berücksichtigung der bereits erfolgten (erfolgreichen) Therapie von einem Status auszugehen, der nicht weiter zu verbessern sei. Jedoch sei die Dyskalkulie noch nicht therapiert. In diesem Zusammenhang sei davon auszugehen, dass eine Therapie zu einer subjektiven (deutlichen) Verbesserung der Leistungsfähigkeit führen werde. Allerdings könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine berufliche Tätigkeit, in deren Vordergrund stehend rechnerische Fähigkeiten verlangt werden, von der Klägerin in einem Maße wie von einem Gesunden durchgeführt werden könnten.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.09.2007 (= Blatt 106 der Gerichtsakte) führt Dr. XXX aus, die soziale Phobie sei als therapiert zu bezeichnen und besitze keine Auswirkungen auf das quantitative Leistungsvermögen der Klägerin. Dagegen stelle die noch nicht therapierte Dyskalkulie eine nicht unwesentliche Einschränkung der vollen Leistungsfähigkeit dar. (Erst) durch eine entsprechende Therapie sei die Auswirkung auf diese Minderung bzw. auf das in seinem Fachgutachten vom 07.05.2007 attestierte positive und negative Leistungsbild als nicht signifikant hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit zu betrachten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift der öffentlichen Sitzung vom 29.07.2008, die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 18.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Zu Unrecht hat es die Beklagte abgelehnt, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe in Form einer Dyskalkulietherapie zu gewähren.

Zur medizinischen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen werden gemäß § 26 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) die erforderlichen Leistungen erbracht, um Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten (Nr. 1) oder Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern (Nr. 2). Gemäß § 7 Satz 2 SGB IX richten sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen.

Nach § 9 Abs. 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden (Nr. 1) und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern (Nr. 2). Die Leistungen nach Absatz 1 können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 SGB VI). Für die Leistungen zur Teilhabe haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr. 1) und bei denen voraussichtlich bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann (Nr. 2a), bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert der wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann (Nr. 2b), bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann (Nr. 2c).

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten sind vorliegend die in § 10 SGB VI normierten persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe erfüllt.

In diesem Zusammenhang muss sich die Beklagte darauf verweisen lassen, dass eine geminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 SGB VI nicht nur dann vorliegt, wenn eine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI besteht, sondern bereits dann, wenn – wie hier – die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nicht unwesentlich eingeschränkt und der Versicherte daher nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf normal auszuüben (vgl. Niesel in Kasseler Kommentar, § 10 SGB VI, Rn. 6). Es reicht nicht schlechthin jede erhebliche Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Diese muss von gewissem Gewicht und gewisser Dauer sein. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX muss die Behinderung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern. Die Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit muss zumindest bis zum Abschluss der Leistung der Teilhabe voraussichtlich fortbestehen und durch diese wesentlich beeinflusst, beseitigt oder gemildert werden können. Es ist unerheblich, wie lange die Minderung bereits andauert, auch eingebrachte Leiden sind zu berücksichtigen (Niesel, a. a. O., § l0 SGB VI, Rn. 8).

Dann aber muss sich die Klägerin keineswegs darauf verweisen lassen, sie verfüge über ein vollschichtiges Leistungsvermögen im Sinne des § 43 SGB VI. Vielmehr verkennt die Beklagte, dass der Sachverständige Dr. XXX sowohl in seinem nervenärztlichen Fachgutachten vom 07.05.2007 als auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.09.2007 schlüssig und nachvollziehbar erläutert hat, dass die Dyskalkulie die Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht nur unwesentlich einschränkt. Erst durch eine entsprechende Therapie seien die Auswirkungen der Dyskalkulie auf das von ihm festgestellte Leistungsvermögen der Klägerin als nicht signifikant zu betrachten. Im Übrigen hat das Gericht unter Berücksichtigung der gutachtlichen Feststellungen des Herrn Dr. XXX keine Zweifel am Bestehen von Erfolgsaussichten hinsichtlich der streitgegenständlichen Dyskalkulietherapie im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 2b SGB VI. So führt Dr. XXX auf Seite 22 seines nervenärztlichen Fachgutachtens vom 07.05.2007 aus, eine Therapie der Dyskalkulie werde zu einer deutlichen Verbesserung der Leistungsfähigkeit führen, obgleich nicht angenommen werden könne, dass berufliche Tätigkeiten, bei denen rechnerische Fähigkeiten im Vordergrund stehen, diese von der Klägerin gleichwertig verrichtet werden könnten. Entscheidend ist jedoch, dass nach den Aussagen des Sachverständigen eine therapierte Dyskalkulie die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen nicht (länger) signifikant beeinträchtigt.

Nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften war jedoch eine Verurteilung der Beklagten lediglich zur Kostenübernahme in Zusammenhang mit der begehrten Dyskalkulietherapie nicht möglich. Insoweit muss sich die Klägerin darauf verweisen lassen, dass den Rentenversicherungsträgern bezüglich der Gewährung von Leistungen zur Teilhabe ein Ermessen eingeräumt ist. Dies ergibt sich aus der Formulierung des § 9 Abs. 2 SGB VI, wonach die Leistungen erbracht werden können, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Die mögliche Ermessensausübung ist dabei jedoch auf das „Wie“ beschränkt, d. h. auf Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung sowie den Ort der Leistung. Dem Rentenversicherungsträger ist also bezüglich des „Ob“ der Reha, der so genannten Eingangsprüfung, kein Ermessen eingeräumt (vgl. Niesel, a. a. O., § 9 SGB VI, Rn. 9 und § 13 SGB VI, Rn. 5). Vor diesem Hintergrund war die Beklagte lediglich zur Gewährung von Leistungen zur Teilhabe in Form einer Dyskalkulietherapie zu verurteilen. Über die Einzelheiten der Durchführung der Therapie hat die Beklagte in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.