VG Dresden 02/2008

Abschrift
Az.: 1 K 1469/07
Verwaltungsgericht Dresden
… Urteil in der Verwaltungsrechtssache
… Kläger
gegen
die Landeshauptstadt Dresden … Beklagte
wegen
Eingliederungshilfe
Hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Dresden … aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26.02.2008
Für Recht erkannt:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.03.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2007 verpflichtet, die Kosten der Dyskalkulietherapie des Klägers im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche vom 24.01.2007 bis zum 31.12.2007 zu übernehmen. …
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapie.
Er wurde am … 1995 geboren. Wegen der vorzeitigen Geburt (5 Wochen vor dem errechneten Termin) musste der Kläger zunächst im Inkubator gepflegt werden. Die frühkindliche Entwicklung lief verzögert. Es wurde eine Frühförderung durchgeführt und der Kläger im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) Dresden vorgestellt. Zwischenzeitlich bestand Verdacht auf Autismus. Mit 8 Jahren wurde der Kläger eingeschult. Er wurde wegen Minderwuchses behandelt und erhielt über ca. 5 bis 6 Jahre Ergotherapie. Wegen einer Haltungsschwäche wurde dem Kläger auch eine Physiotherapie verordnet.
Wegen Schwierigkeiten im Fach Mathematik wurde der Kläger von der Schulpsychologischen Beratungsstelle des Regionalschulamtes am 17.12.2005 untersucht. In ihrem Befund vom 16.02.2006 stellte die Dipl. Psych. … eine Dyskalkulie fest. Nach Einschätzung der Psychologin bestand auch eine Angststörung bei Anforderungen aus dem Bereich der Mathematik. In den Empfehlungen hieß es, eine Förderung der Dyskalkulie sei notwendig. Da es um die Förderung von Basisfähigkeiten gehe, reiche der Umfang der Förderung über den schulischen Rahmen hinaus. Es werde eine spezifische außerschulische Förderung der Dyskalkulie empfohlen.
Der Kläger besuchte seit März 2006 ein Therapiezentrum für Rechenschwäche.
Unter dem 17.11.2006 fertigte die Fachärztin für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und –psychotherapie … eine ärztliche Stellungnahme des Gesundheitsamtes für den Träger der Jugendhilfe an. In den Diagnosen nach ICD-10 stellte sie u.a. fest: „umschriebene Entwicklungsstörung motor. Funktionen und des Rechnens (Befund Schulpsych. BST vom 16.02.06)“. Unter „Stellungnahme“ führte die Ärztin aus:
1. Aus fachlicher Sicht: In welcher Form ist eine gezielte Förderung sinnvoll? Wegen der Kombination von mehreren Teilleistungsstörungen und der gesamten psychosozialen Symptomatik sollte eine spezielle Förderung wegen Dyskalkulie in das therapeutische Grundkonzept eingebunden werden.
2. Oder bei anderen Fragestellungen entsprechende differenzierte Empfehlungen Bezug auf Integrationsproblematik der Kinder/Jugendlichen muss erkennbar und beschrieben sein. Die soziale Integration in Schule und Freizeit erscheint durch die Komplexität der Handicaps deutlich gefährdet. … leidet vor allem unter dem Schulleistungsversagen, entwickelt Versagensängste, ist schwer zu motivieren und zieht sich zurück.
3. Welche unterstützenden Maßnahmen können von der Beratungsstelle geleistet werden? Es wurde eine multimodale kinderpsychiatrische Therapie begonnen, wobei die Helfersysteme unbedingt koordiniert werden müssen.
Fragestellung:
Ø Liegt bei o.G. eine psychische Störung von Krankheitswert vor? Ja und zwar im biopsychosozialen Kontext.
Ø Was ist aus amtsärztlicher/kinderpsychiatrischer Sicht für o.G. erforderlich und (wenn ja) in welcher Form? Eine kinderpsychiatrische Therapie wurde begonnen. Bez. der Dyskalkulie sollten außerschulische Fördermaßnahmen eingeleitet werden.
Ø Ist der Klient aus ärztlicher/psychologischer Sicht in seiner sozialen Entwicklung gefährdet? Ja – im schulischen Bereich sollte den Besonderheiten von … Rechnung getragen werden. So wird sonderpädagogischer Förderbedarf auch in den nächsten Jahren erforderlich sein. Der Schwerpunkt der schulischen Integration sollte bei Beachtung der Komplexität aller vorliegenden Störungen im Bereich der Körperbehinderung liegen, mit dem Ziel, im kleineren Klassenverband Kompensationsmöglichkeiten für Teilleistungsstörungen und psychosoziale Belastungen zu finden.
Ø Sind andere therapeutische Maßnahmen anzustreben (Krankenkasse etc.)? Pädiatrische und physiotherapeutische Behandlungen erfolgen kontinuierlich.“
Unter dem 24.01.2007 stellten die Eltern, die sich bereits zuvor an die Beklagte gewandt hatten, für den Kläger einen ausdrücklichen Antrag auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII. Die Beklagte führte Gespräche mit dem Kläger und seiner Mutter. Außerdem wurde eine Stellungnahme der Grundschule eingeholt.
Mit Bescheid vom 26.03.2007 lehnte die Beklagte eine Eingliederungshilfe ab. Zur Begründung hieß es, weder liege gegenwärtig eine Fehlintegration des Klägers vor noch drohe eine solche. Dies sei jedoch Voraussetzung für eine Eingliederungshilfe. Der Kläger leide an keiner Schulphobie, sei in die Klasse integriert und habe auch 1-2 Schulkameraden. Die Ärztin des Gesundheitsamtes sehe den Schwerpunkt des Förderbedarfs im sonderpädagogischen Bereich, so dass mittels einer verantwortlich getroffenen Schulentwicklung einer möglichen Fehlintegration entgegengewirkt werden könne.
Die Mutter des Klägers legte unter dem 11.04.2007 Widerspruch ein.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18.07.2007 … zurückgewiesen.
Der Kläger hat am 26.07.2007 durch den Prozessbevollmächtigten seiner Eltern Klage erhoben. Er vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Eingliederungshilfemaßnahme in der begehrten Form vorliegen.
Gleichzeitig beantragte er vorläufigen Rechtsschutz. Dieser Antrag wurde mittlerweile für erledigt erklärt.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.03.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2007 zu verpflichten, die Kosten der Dyskalkulietherapie des Klägers im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Dresden vom 24.01.2007 bis 31.12.2007 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt die streitbefangenen Bescheide.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Antragsteller hat gemäß § 35a SGB VIII einen Anspruch auf Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapie.
Nach dieser Vorschrift haben Kinder Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen zustand abweicht (seelische Störung, § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII), und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Teilhabebeeinträchtigung, § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Das Bestehen einer Dyskalkulie über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Das Vorliegen dieser Beeinträchtigung beim Kläger erfüllt bereits für sich genommen die Voraussetzungen des § 35a Abs. Satz 1 Nr. 1 SGB VIII. Zur Bejahung dieser Voraussetzungen – und damit des ersten Teils des Tatbestandes aus § 35a Abs. 1 Satz 1 – ist es demgegenüber nicht erforderlich, dass zu der Dyskalkulie andere seelische Folgebeeinträchtigungen hinzutreten. Hier geht auch die Kommentierung in Hauck, SGB VIII, Stand Ergänzungslieferung September 2007, § 35a Rn. 26 fehl. Die dort zur Begründung zitierte Rechtsprechung knüpft an den Begriff der Behinderung an. Die aktuell geltende Fassung des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII enthält seit dem 01.07.2001 jedoch für den ursprünglich auch dort verwendeten Begriff der Behinderung nunmehr die hier dargestellte zweiteilige Legaldefinition der seelischen Behinderung (seelische Störung und Teilhabestörung). Die in Hauck SGB VIII genannte Rechtsprechung stammt aus der Zeit vor 2001. Dass es sich bei Dyskalkulie um eine Störung im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII handelt, ergibt sich aus der Bezugnahme auf die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII, die Grundlage der ärztlichen oder therapeutischen Stellungnahme zur Bejahung der Voraussetzungen von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII sein soll. Dort ist die Dyskalkulie unter F 81.2 als selbständige Störung aufgeführt.
Auch die Voraussetzungen von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (Teilhabestörung) sind erfüllt. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln geht das Gericht davon aus, dass die Teilhabe des Klägers an der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Bei der Auslegung dieses Teils der Anspruchsvoraussetzungen ist zuvorderst der Wortlaut in Blick zu nehmen. Dort ist von einer „Beeinträchtigung“ der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft die Rede. So ist nicht etwa eine „schwere Beeinträchtigung“ oder gar eine „Verhinderung“ der Teilhabe gefordert. Der Begriff „Beeinträchtigung“, der hier die Art und Schwere der Belastung des Betroffenen charakterisiert, ist mithin weit gefasst. Es handelt sich um eine Regelung, die erkennbar dazu dient, Bagatellfälle vom Anwendungsbereich der Norm auszuschließen. Eine besonders hohe Leidensschwelle wird aber gerade nicht gezogen. Daher erscheint es nach Ansicht der Kammer verfehlt – wenn es auch in der Rechtsprechung immer wieder zu lesen ist -, im Falle einer für das schulische Leben relevanten Teilleitungsstörung den Anwendungsbereich der Norm erst dann erreicht zu sehen, wenn bereits eine auf Versagensängsten gegründete Schulphobie, eine totale Schul- und Lernverweigerung oder gar ein Rückzug aus jedem sozialen Kontakt vorliegen.
Hier ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – zu dem auch der Schulbesuch gehört – durch seelische Belastungen des Klägers, die jedenfalls auch auf der Dyskalkulie beruhen, in einer Weise gestört, die über allgemeine Schulprobleme hinausgeht.
Bei der Sachprüfung ist der ärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes durch die Fachärztin für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie/-psychotherapie … vom 17.11.2006 ein besonderes Gewicht beizumessen, das sich aus der neutralen Stellung des Gesundheitsamtes und der einschlägigen fachlichen Qualifikation der Ärztin ergibt. Das Gericht verkennt nicht, dass die Stellungnahme der Ärztin gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorrangig der Feststellung der seelischen Störung … dient. Jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass der Fachärztin auch für die Beurteilung der Folgewirkungen der Dyskalkulie des Klägers ihre Fachkompetenz zu Gute kommt. Darüber hinaus bezieht sich dich Anfrage an die Fachärztin des Gesundheitsamtes auch auf eine mögliche Teilhabestörung, indem nach einer Gefährdung der sozialen Entwicklung gefragt wird. Bereits in der problembezogenen Vorgeschichte aus der ärztlichen Stellungnahme wird ausgeführt, dass der Antragsteller sehr schnell abgespannt und durch die Leistungsprobleme in der Schule oft demotiviert sei. Er ziehe sich von altersgemäßen Sozialkontakten zurück. Dass diese von der Ärztin genannten Leistungsprobleme anscheinend wesentlich aus der Dyskalkulie herrühren, ergibt sich schon daraus, dass laut Stellungnahme der 12. Grundschule vom 05.07.2007 lediglich im Fach Mathematik im Zeugnis eine 5 vergeben werden musste, während im Übrigen 2en und 3en erzielt wurden. In mit „Stellungnahme“ überschriebenen Teil führt die Ärztin aus, dass die soziale Integration in Schule und Freizeit durch die Komplexität des Handicaps deutlich gefährdet sei. Hiermit wird auch auf die anderen gesundheitlichen Probleme des Antragstellers verwiesen (u.a. Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Entwicklungsstörung motorischer Funktionen und Minderwuchs). Dann heißt es aber weiter, dass der Antragsteller unter seinem Schulleistungsversagen leide, Versagensängste entwickle, schwer zu motivieren sei und sich zurückziehe. Die Erwähnung des Schulleistungsversagens stellt auch hier wieder eine Verbindung zur insoweit maßgebenden Dyskalkulie her. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Dipl.-Psych. … von der Schulpsychologischen Beratungsstelle des Regionalschulamtes Dresden unter dem 16.02.2006 so weit ging, bereits eine Angststörung bei Anforderungen aus der Mathematik zu diagnostizieren. Aus allem lässt sich entnehmen, dass Dyskalkulie für den Kläger eine erhebliche und leidvolle Beeinträchtigung bei der Bewältigung des Schulalltags darstellt, welche die Schwelle einer Teilhabestörung nach § 35a Abs. Satz 1 Nr. 2 SGB VIII überschreitet.
Soweit die Beklagte darauf verweist, dass nach er von ihr im Zusammenwirken mit der Schule des Klägers gewonnenen Auffassung der Kläger keine Außenseiterrolle einnehme, vielmehr von seinen Klassenkameraden augenscheinlich akzeptiert werde, führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis. Das äußere Erscheinungsbild des sozialen Verhaltens des Klägers und seiner Umwelt spielt bei der Beurteilung der Teilhabestörung sicherlich eine erhebliche Rolle. Allerdings vermag nach Auffassung der Kammer auch ein mehr subjektives und inneres Leidensgeschehen des betroffenen Kindes aus dessen Perspektive die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu beeinträchtigen. Diese mehr subjektive Seite der Beeinträchtigung wird nach den obigen Ausführungen durch die Stellungnahme des Gesundheitsamtes hinreichend belegt. Zu weiteren Aufklärungen zur äußeren sozialen Situation des Klägers sah sich das Gericht nicht mehr veranlasst. Ausdrückliche Beweisanträge in dieser Richtung wurden in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt.
Solange sich der Kläger noch auf der Regelschule befindet, erscheint eine Dyskalkulietherapie auch als geeignete Maßnahme. …
Nach allem ist der Klage stattzugeben.