VG Gera 01.07.2008

Abschrift

6 K 84/07 Ge

VERWALTUNGSGERICHT GERA

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des Kindes XXX
vertreten durch die Eltern XXX
– Kläger –

Prozessbevollmächtigt:
Rechtsanwältin XXX

gegen

den Landkreis XXX, vertreten durch die Landrätin XXX
– Beklagter –

beigeladen:

der Freistaat
vertreten durch den – Kultusminister,
dieser vertreten durch den Leiter des Staatlichen Schulamtes XXX

wegen Kinder- und Jugendhilferechts

hat die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Gera durch

den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht XXX,
die Richterin am Verwaltungsgericht XXX,
die Richterin am Verwaltungsgericht XXX,
die ehrenamtliche Richterin XXX und
den ehrenamtlichen Richter XXX

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 1. Juli 2008 für Recht erkannt:

1. Der Bescheid des Beklagten vom 6. Dezember 2006 (Az.: 30-564/06-01)
und der Widerspruchsbescheid des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 17. Januar 2007 (Az.: 220-6544.01-001/07) werden aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verpflichtet, seinen Bescheid vom 15. September 2005 (Az.: A III/51.2.12) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 22. September 2006 (Az.: 220- 6544.01-042/06) zurückzunehmen und der Klägerin im Zeitraum April 2005 (Antragstellung) bis zum 17. Januar 2007 Eingliederungshilfe in der Form der Übernahme der Kosten für den Besuch des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche Gera-Altenburg zu bewilligen.

3. Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

4. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung der Kosten der Klägerin gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der noch festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Verpflichtungen des Beklagten, einen bestandskräftigen Bescheid aufzuheben und ihr Eingliederungshilfe nach § 35a des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) in Gestalt der Übernahme der Kosten für den Besuch des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche Gera-Altenburg zu bewilligen.
Die 1994 geborene Klägerin leidet unter einer Rechenstörung (Dyskalkulie). Sie hat zwei dreizehn bzw. achtzehn Jahre ältere Geschwister und lebt zusammen mit ihren Eltern, die Mutter ist Kindergärtnerin, der Vater Gemeindebediensteter, in einer kleinen Gemeinde im Gebiet des Beklagten. Die Klägerin besuchte seit dem Schuljahr 2002/2003 die Staatliche Grundschule Bad Köstritz (Grundschule).

Im Juni 2004 beantragen die Eltern der Klägerin bei dem beigeladenen Schulamt die Notenaussetzung im Fach Mathematik. In dem Antrag heißt es:

„Unsere Tochter leidet an Dyskalkulie. Beim Gespräch mit der Schulleitung wurde uns mitgeteilt, dass eine Notenaussetzung keinesfalls von Seiten der Schule gestellt wird. Uns wurde klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es nicht möglich ist, den Kindern/Mitschülern die Notwendigkeit dieser Regelung zu erklären, weiterhin sei die Dauer der Therapie nicht absehbar. Um es nicht erst zu einer seelischen Behinderung unseres Kindes kommen zu lassen, halten wir eine Notenaussetzung durchaus für angebracht. Wir bemerkten schon seit einiger Zeit, dass XXX seelisch stark angespannt ist und an Selbstzweifeln leidet. Ohne ersichtlichen Grund fängt sie häufig an zu weinen. Wir haben das Gefühl, dass ein gestörtes Verhältnis zu Gleichaltrigen vorliegt.“

Daraufhin wurde der Klägerin vom Unterricht im Fach Rechnen befreit. Nachdem im Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2004/2005 der Hinweis erhalten war, dass die Versetzung gefährdet sei, wurde sie am Ende des Schuljahres 2004/2005 wegen nicht nachgewiesener bzw. ungenügender Leistungen im Fach Mathematik nicht versetzt bzw. ließen die Eltern ihre Tochter die dritte Klasse wiederholen.

Seit April 2004 besuchte die Klägerin einmal wöchentlich (1 Unterrichtsstunde zu 45 Minuten) das Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Gera-Altenburg (ZTR Gera-Altenburg). In dem Testbericht der Dyskalkulietherapeutin Heyber vom 30. April 2004 heißt es:

„Die Prozessanalyse zeigt, dass bei XXX die für das mathematische Lernen notwendigen Grundlagen nicht vorhanden sind. Aufgrund der fehlenden, vorausgesetzten Kenntnisse kann sie den Lernangeboten der Schule nicht folgen. Ihre mathematischen Lernprobleme sind folglich keine Frage des (mangelnden) Fleißes oder irgendeiner Art (mangelnder) Begabung, sondern lediglich einer bestehenden Unkenntnis bereits im pränumerischen Bereich. Diese fehlende Basis muss sachlogisch richtig erarbeitet bzw. aufgearbeitet werden, damit die inzwischen erworbenen Wissensdefizite nachholend und systematisch geschlossen werden können.

Mit Schuleintritt wurden bei XXX Hemmungen sichtbar, die sich im mangelnden Leseverständnis und in der Angst vor dem Mathematikunterricht begründen. Durch die Logopädin Frau XXX wurde eine LRS diagnostiziert und therapiert (laufend). Es wurden bereits deutliche Fortschritte erreicht. Während des RS-Testverfahrens konnten keine Auffälligkeiten hinsichtlich des Lesen-Könnens und des Textverständnisses festgestellt werden. XXX ist sichtlich stolz auf diesen Lernfortschritt. Sobald das Lernen im Zusammenhang mit Mathematik steht, treten bei ihr große Versagensängste auf. Dies äußert sich im zunehmenden Unwillen, am Mathematikunterricht teilzunehmen (Ausreden gegenüber den Eltern, Nervosität vor der
Erledigung der Mathematikhausaufgaben und scheinbar schnelle Ermüdbarkeit während des „Rechnens“). Eine besondere Abneigung XXX wird vor Zusammentreffen mit anderen Familienangehörigen (Großeltern…) geschildert. XXX beschreibt dabei ihre Angst, nach schulischen Leistungen gefragt zu werden. XXXs Integration in Spielgruppen gleichen Alters ist nicht mehr gegeben. Sie wird aufgrund ihres mathematischen Leistungsversagens gehänselt. Deshalb sucht sie sich jüngere Spielkameraden oder vermeidet das Zusammensein mit anderen Kindern. XXX tanzt zweimal wöchentlich in einem Tanzverein. Hier fühlt sie sich wohl und ist anerkannt.

XXX wird durch den schulischen und häuslichen Umgang mit ihrer Dyskalkulie permanent überfordert. Das extensive, aber bei Rechenschwäche immer erfolglose zusätzliche Üben des Schulstoffs führt auch bei ihr zu persönlichkeits(de)formierenden Selbstzweifeln und Selbstbewusstseinsverlusten. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich bei Chronifizierung der Rechenstörung die sekundärsymptomatischen psychischen Folgen über das jetzt bereits erkannte Maß hinaus deutlich zeigen werden. Die permanente mathematische Überforderung geht dann in der Regel über die Fachunlust und Fachangst (bereits vorhanden) hinaus und führt zu generalisierter Lernunlust und Versagensangst begleitet von psychosomatischen Beschwerden. Es muss sodann bei nicht vorgenommener lerntherapeutischer Intervention zukünftig von einer schulisch wie beruflich ausweglosen Situation ausgegangen werden, die psychisch mit für das Selbstkonzept unkalkulierbaren Folgen verarbeitet werden muss.“

Am 28. April 2005 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Kostenübernahme für die Dyskalkulietherapie bei dem ZTR Gera-Altenburg. Daraufhin holte der Beklagte eine pädagogische Einschätzung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes ein. Die zuständige Pädagogin, die Zeugin XXX, führte in ihrer Einschätzung vom 12. Mai 2005 aus:
„XXX beherrscht die Zahlen und deren Ordnung im Zahlenraum bis Hundert. Sie rechnet im Zahlenraum bis Zwanzig ohne und mit Überschreitung vorwiegend richtig. Sie benutzt dabei Anschauungsmittel (Finger). Das Addieren und Subtrahieren bis Hundert ohne und mit Überschreitung gelingt nur in Ansätzen richtig, immer mit Fingerrechnen. Für diese formalen Aufgaben hat XXX Kompensationsstrategien entwickelt, um diese Schwächen zu kaschieren. Muss sie aber Aufgaben mit Platzhaltern rechnen oder Sachaufgaben lösen, bei denen mathematisch-logisches Denken erforderlich ist, dann kommt sie zu keinem richtigen Lösungsansatz. Die Vermutung, dass XXX eine Teilleistungsschwäche in Mathematik aufweist, wird durch das Ergebnis des ZAREKI untermauert. Die Auswertung ergab eindeutig eine Dyskalkulie. Die größten Probleme traten dabei beim Zahlenschreiben und -lesen (verwechselt die Stellenwerte), beim Kopfrechnen, beim Anordnen am Zahlenstrahl, beim Zahlenvergleich, bei der perzeptiven und kognitiven Mengenbeurteilung sowie bei Textaufgaben auf. In diesem Lernbereich besteht ein enormer Förderbedarf. … XXX erfasst Problemstellungen durchaus selbständig und zeigt richtige Lösungsansätze. … Die Auswertung des CFT 20 untermauert das, denn sie ergab eine durchschnittliche intellektuelle Begabung. Diese Voraussetzungen ermöglichen es ihr aber kaum, ihre Probleme in Mathematik selbständig zu kompensieren.
… XXX lernt zurzeit in einer 3. Klasse. Ihre psychische Befindlichkeit hat sich durch die erlebten Misserfolge dahingehend verändert, dass ihr Selbstwertgefühl und das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit sehr beeinträchtigt sind. XXX arbeitet schwankend mit und in Mathematik fehlerhaft. Es ist anzunehmen, dass eine Teilleistungsschwäche (Dyskalkulie) vorliegt sowie Probleme im logischen und folgerichtigen Denken und ihre verminderte Konzentrationsfähigkeit das richtige Erfüllen der Aufgaben beeinträchtigt, so dass die Festigung von Fertigkeiten und Kenntnissen erschwert wird. Im Verlauf der 3. Klasse häuften sich die Misserfolge in Mathematik so massiv, dass sie selbständig nicht mehr in der Lage war, den Anschluss an das Leistungsniveau ihrer Klasse zu halten.
Um aber in Mathematik wieder erfolgreich zu lernen, erhält sie individuelle Aufgaben und Aufträge, die sie im Unterricht erfüllen kann .Zusätzlich erhält sie im ZTR Gera-Altenburg… eine individuelle Förderung. Trotz dieser intensiven und individuellen Förderung sind bei XXX kaum Erfolge zu verzeichnen. Diese ständigen Misserfolge wirken sich auf ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung sehr negativ aus: Sie hat kaum Vertrauen in ihre eigene Leistungsfähigkeit und ihr vermindertes Selbstwertgefühl beeinflusst ihr seelisches Gleichgewicht negativ. Um in Mathematik ein erfolgreiches Lernen bei XXX zu erlangen, bedarf sie weiterhin einer individuellen Förderung. Eine Wiederholung der 3. Klasse wird angeraten.“

Aus den weiteren vom Jugendamt im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahmen der Schulleiterin bzw. der Klassenlehrerin der Klägerin, der Zeuginnen XXX bzw. XXX vom l. Juni 2005 ergibt sich vor allem, dass die Klägerin häufig selbstbewusst „wirke“ und das Kind häufig über Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit und Ähnliches klagt. Ferner habe das Kind immer Probleme bei der Erledigung von Hausaufgaben im Fach Mathematik. Es habe „immer guten Kontakt zu seinen Mitschülern“ und wirke stets von der Familie gut versorgt.

Im Juli 2005 beantragten die Eltern der Klägerin bei dem Beklagten erneut die Bewilligung von Eingliederungshilfe. In dem Antrag heißt es:
„XXX ist äußerst sensibel und kann sich nur schwer konzentrieren. Sie hat Kontaktstörungen zu Gleichaltrigen, hervorgerufen durch Versagensängste und mangelndes Selbstwertgefühl. Oft wirkt sie auch sehr gereizt.
… Durch den Leistungsdruck in Mathematik kommt es bei XXX zu permanenten Unsicherheiten, Misserfolgserwartungen, Selbstbewusstseinsverlust und zu negativer Selbsteinschätzung. XXX hat Angst vor Mathe-Arbeiten und leidet unter schlechten Zensuren. Ausgeprägtes Empfinden eigener Minderwertigkeit ist Folge der Dyskalkulie. Es treten Konzentrationsdefizite bei Leistungsanforderungen auf. XXX knirscht mit den Zähnen, kaut ihre Haare, und es besteht der Verdacht auf psychosomatisch verursachte Kopf- und Bauchschmerzen. XXX ist ein ruhiges, sensibles Kind, welches sich lieber zurückzieht, als im Mittelpunkt zu stehen. Ihren Lehrern begegnet sie mit Respekt, ist ihnen gegenüber höflich und freundlich. Zu ihren Eltern und Geschwistern hat XXX ein sehr gutes Verhältnis.“

Die Amtsärztin des Beklagten, die Fachärztin für Kinderheilkunde XXX, stellte in ihrer vom Jugendamt eingeholten sozialmedizinischen Stellungnahme vom 25. August 2005 fest, dass bei der Klägerin eine Persönlichkeits- bzw. Entwicklungsstörung gegeben sei und eine seelische Behinderung drohe. Sie begründet die Diagnose damit, dass die Klägerin bei der Testdurchführung des CFT 1 ein Ergebnis erbracht habe, welches deutliche Abweichungen in den mathematischen Bereichen aufweise. Es sei eindeutig eine Teilleistungsstörung (Rechenstörung/Dyskalkulie) festzustellen, die zur Überforderung und zum Nichterreichen des Klassenziels der 3. Klasse geführt habe. Es zeige sich eine zunehmende Schulangst und Versagensangst, die zu einer seelischen Behinderung beitragen könne. Die Klägerin besitze die Fähigkeit aufgrund ihrer Intelligenz durch gezielte Fördermaßnahmen die Dyskalkulie zu beseitigen bzw. auszugleichen. Als pädagogische oder pädagogisch organisierte Maßnahme werde die ambulante Dyskalkuliebehandlung durch das ZTR Gera-Altenburg für die Dauer von zwei Jahren bis zum Übergang in die Regelschule empfohlen.

Mit Bescheid vom 15. September 2005 lehnte der Beklagte die Bewilligung von Eingliederungshilfe ab. Er führte begründend an, dass bei der Klägerin zwar unstreitig die seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweiche, da bei ihr eine Dyskalkulie gegeben sei. Allerdings sei die Teilhabe der Klägerin am Leben der Gemeinschaft nicht beeinträchtigt oder bedroht. Die Beeinträchtigungen wie beispielsweise häufige Kopfschmerzen, Nägelkauen oder Minderwertigkeitsgefühle gefährdeten die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht. In den Bereichen Elternhaus, Freizeit und Schule habe sich aus den Erörterungen der Eltern, der Schule sowie aus dem Gutachten der Amtsärztin keine Beeinträchtigung im Sinne des § 35a SGB VIII ergeben. Die
Klägerin werde im Allgemeinen als ruhiges, sensib1es, aber auch aufgeschlossenes und aufmerksames Mädchen beschrieben, welches gute Kontakte zu Gleichaltrigen finde.

Gegen den Bescheid vom 15. September 2005 erhob die Klägerin am 18. Oktober 2005 Widerspruch und sodann am 2. Juni 2006 eine gegen den Beklagten gerichtete Untätigkeitsklage zu dem Verwaltungsgericht Gera (6 K 443/06 Ge). Nachdem das Thüringer Landesverwaltungsamt mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2006 den Widerspruch zurückgewiesen hatte, richtete die Klägerin ihre Klage auch gegen den Beigeladenen (Widerspruchsbehörde). Daraufhin fragte die seinerzeit zuständige Richterin (Berichterstatterin) bei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin an, ob sie die Klage unter Einbeziehung des Widerspruchsbescheides allein gegen den Beklagten oder auch gegen den Beigeladen fortführen wolle. Darauf erklärte die Klägerin, die Klage richte sich allein
gegen den Beigeladenen und nahm am 2 .November 2006 zunächst die gegen den Beklagten gerichtete Klage und sodann am 4. Dezember 2006 die gegen den Beigeladenen (Widerspruchsbehörde) gerichtete Klage zurück. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt.

Gleichzeitig mit der Klagerücknahme beantragte die Klägerin durch Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 28: November 2006 bei dem Beklagten die Überprüfung seines Bescheides vom 15. September 2005. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6. Dezember 2006 ab. Er berief sich darauf, dass auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmung des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (§ 44 Abs. 2) die Rücknahme nicht
erfolgen dürfe, da sein Bescheid vom 15. September 2005 rechtmäßig sei. Den daraufhin von der Klägerin erhobenen Widerspruch wies das Thüringer Landesverwaltungsamt durch Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2007 mit der Begründung zurück, die Aufhebung komme nicht in Betracht, da die Klägerin keine neuen Tatsachen vorgetragen habe.

Am 1. Februar 2007 hat die Klägerin erneut Klage zu dem Verwaltungsgericht Gera erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides sowie auf Bewilligung von Eingliederungshilfe weiter verfolgt, und zur Begründung im Wesentlichen vorträgt: Sie sei auf der Grundlage der Stellungnahme der Fachärztin für Kinderheilkunde XXX vom 25. August 2005 von einer seelischen Behinderung bedroht, welche die Dyskalkuliebehandlung durch das ZTR Gera-Altenburg in ambulanter Form für zwei Jahre bis zum Übergang in die Regelschule dringend erfordere. Sie habe vor Beginn der Therapie im ZTR Gera-Altenburg unter permanenter Angst gelitten.

Die Klägerin beantragt,

1. den Bescheid es Beklagten vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 17. Januar 2007 aufzuheben und

2. Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 22. September 2006 zurückzunehmen und der Klägerin im Zeitraum April 2005 (Tag der Antragstellung) bis zum 17. Januar 2007 Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für den Besuch des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche in Gera-Altenburg zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er trägt zur Begründung seines Antrages im Wesentlichen vor: Er sei nicht verpflichtet, den bestandskräftigen Bescheid aufzuheben, da die Klägerin keine neuen Tatsachen vortrage. Für eine Leistungsbewilligung reiche es nicht aus, dass ein Arzt die Voraussetzungen der einschlägigen Bestimmung des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs (§ 35a Abs. 1 Satz 1) festgestellt habe. Vielmehr müsse auf dieser Basis eine soziale Beeinträchtigung der
Eingliederung insbesondere in Schule, Gleichaltrigengruppe etc. festgestellt werden, welche sich aus der ICD-Klassifikation ergebe. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall.

Das beigeladene Schulamt hat weder eine Stellungnahme abgegeben noch einen Antrag gestellt.

Das Gericht hat durch die Einvernahme der Lehrerinnen XXX, XXX, XXX, XXX (Schulleiterin)) und XXX Beweis erhoben zu der Frage, wie sich die bei der Klägerin festgestellten Schul- und Versagensängste im Zeitraum Frühjahr 2005 bis Anfang 2007 auf ihr Verhalten im schulischen Bereich ausgewirkt haben. Ferner wurden die Zeuginnen zu der Frage gehört, ob im vorgenannten Zeitraum die Beschulung an der Grundschule zur Erlangung einer angemessenen Schulausbildung und sozialen Integration ausreichten oder ob es der zusätzlichen Förderung durch das ZTR Gera-Altenburg bedurft habe. Zum Ergebnis Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 1. Juli 2008 Bezug genommen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte, der
Gerichtsakte des Verfahrens 6 K 443/06 Ge und den Behördenvorgang des Beklagten verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Bescheide des Beklagten vom 15. September 2005 und vom 6. Dezember 2006 in der
Gestalt der Widerspruchsbescheide des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 22. September 2006 bzw. vom 17. Januar 2007 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen den Beklagten sowohl Anspruch darauf, dass er den der Bewilligung von Eingliederungshilfe entgegenstehenden Bescheid zurücknimmt als auch, dass er ihr für die Zeit von April 2005 bis zum 17. Januar 2007 Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für die Lerntherapie bei dem ZTR Gera-Altenburg bewilligt (§ 113 Abs. 5 Satz 1. der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -).

Gegenstand des Rechtsstreits ist zunächst das Begehren der Klägerin auf Verpflichtung des Beklagten zur Zurücknahme seines bestandskräftigen Bescheides vom l5. September 2006 (siehe unter I.).

Des Weiteren klagt die Klägerin Eingliederungshilfe vom Beginn des Leistungszeitraums im April 2005 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides am 17. Januar 2007 ein (siehe unter II.). Dieser Zeitraum ist maßgeblich, da die beteiligten Behörden über die Bewilligung von Eingliederungshilfe allein für diese Zeit eine verbindliche Regelung treffen wollten. Denn die durch die öffentlichen Jugendhilfeträger bewilligte Eingliederungshilfe ist keine Dauerleistung. Vielmehr hat das Jugendamt fortlaufend zu prüfen, ob die Voraussetzungen nach § 35a SGB VIII für die Hilfebewilligung noch vorliegen („unter Kontrolleha1ten des Verwaltungsakts“). Bei einer ablehnenden Bewilligungsentscheidung erstreckt sich der behördliche Regelungswille daher regelmäßig auf den Zeitraum der Antragstellung bis zur abschließenden Verwaltungsentscheidung (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 17. Juni 1996 – BVerwG 5 B 222.95 – Buchholz 436 Punkt 511, § 27 KJHG/SGB VIII Nr. 2, zitiert nach Juris). Dass der Beklagte Abweichendes gewollt hat ist nicht ersichtlich.

I. Der Anspruch auf Aufhebung des unanfechtbaren Bescheides vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2006 – insoweit hatte die Klägerin ihre erste Klage (6 K 443/06 Ge) zurückgenommen – beruht auf § 44 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X).

Die Vorschrift lautet: Soweit sich bei Erlass eines Verwaltungsaktes im Einzelfall ergibt, dass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. § 44 Abs. l Satz 1 SGB X ist wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles im Fall der Klägerin anwendbar (siehe unter 1.). Der Beklagte ist auch verpflichtet, seinen unanfechtbaren Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zurückzunehmen, da die Klägerin gemäß § 35a Abs. 1 bis 3 SGB VIII Anspruch auf die beantragte Eingliederungshilfe hat (siehe unter 2.).

1. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist grundsätzlich auf das Leistungsrecht des Kinder- und Jugendhilferechts unanwendbar. Dies ergibt sich zwar nicht aus § 37 Satz 1 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I), wonach das Erste und Zehnte Buch für alle Sozia1leistungsbereiche dieses Gesetzes gelten, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt. Eine die Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ausschließende ausdrückliche Regelung enthält das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) nicht. Der grundsätzliche Ausschluss des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X folgt aber aus dem Strukturprinzip des Kinder- und Jugendhilferechts, wonach die Eingliederungshilfe einen gegenwärtigen Bedarf voraussetzt und daher grundsätzlich nicht für vergangene Zeiträume zu erlangen ist (Wiesner, SGB VIII, 3. Auflage, München 2006, vor §§ 11 ff., Rdnr. 32; VG Düsseldorf, Urteil vom 14. Juni 2006 – 19 K 3244/03 – zitiert nach Juris, Rdnr. 33).

Von diesem Grundsatz gibt es allerdings Ausnahmen. Das ist vor allem der Fall, wenn der Leistungsberechtigte gegen die Ablehnung von Leistungen der Jugendhilfe mit Erfolg das vorgesehene Rechtsmittel eingelegt hat und damit für die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit lediglich der rechtmäßige Zustand wieder hergestellt wird (Wiesner, a.a.O. vor §§ 11 ff., Rdnr. 33). Ihm steht die Fallkonstellation gleich, in der ein Leistungsberechtigter – wie hier die Klägerin – ein zulässigerweise eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen hat und zugleich oder in unmittelbarer zeitlicher Nähe hierzu für den von dem zunächst eingelegten Rechtsbehelf betroffenen Zeitraum erneut Eingliederungsleistungen begehrt. Denn auch in diesem Fall geht es unter Wahrung des vorgenannten Strukturprinzips des SGB VIII nicht um einen abgeschlossenen Fall und um eine erstmalige rückwirkende Hilfebewilligung, sondern um die Herstellung rechtmäßiger Zustände (auch) für die Vergangenheit.

2.Der Beklagte hat durch seinen Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2006 die Vorschrift des § 35a SGB VIII unrichtig angewandt und deshalb der Klägerin Sozialleistungen (Eingliederungshilfe) zu Unrecht nicht erbracht.

Soweit es um Eingliederungshilfe für die Zeit bis zum 30. September 2005 geht, gilt § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046, 1106). Die Bestimmung lautet:
„‚Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter üblichen Zustand abweicht und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.“

Für die Zeit ab dem 1. Oktober 2005 folgt der Anspruch aus § 35a Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII in der Fassung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes vom 8. September 2005 (BGBl. I S. 2729). Dort wird zunächst in Satz 1 der vorstehende Gesetzeswortlaut wiedergegeben. In § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII heißt es dann:
„Von einer seelischen Behinderung im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche bedroht, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis und hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.“
Ebenfalls neu mit Wirkung vom 1. Oktober 2005 bestimmt § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII:

„Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. l Satz 1 Nr. 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme
1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2. eines Kinder-und Jugendpsychotherapeuten oder
3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt einzuholen.“

Die seelische Gesundheit der Klägerin wich im Leistungszeitraum mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für Kinder und Jugendliche ihres Lebensalters typischen Zustand ab und beeinträchtigte dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bzw. ließ eine solche Beeinträchtigung erwarten.

a} Bei der Klägerin wurde eine Dyskalkulie diagnostiziert. Dies ergibt sich sowohl aus der
sozialmedizinischen Stellungnahme der Amtsärztin XXX vom 25. August 2005, der pädagogischen Einschätzung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes vom 12. Mai 2005
(Zeugin XXX) sowie dem Testbericht der Dyskalkulietherapeutin Heyber vom 30. April 2004.

Die Dyskalkulie stellt genau wie Legasthenie keine seelische Störung dar, mag es sich auch
um eine schwere Ausprägung handeln. Vielmehr finden sich bei an Legasthenie und/oder Dyskalkulie leidenden Kindern und Jugendlichen zumeist Beeinträchtigungen der kognitiven Informationsverarbeitung. Diese beruhen größten Teils auf biologischen Fehlfunktionen.
Dabei hande1 es sich um abgegrenzte Ausfälle von Hirnleistungen. Beeinträchtigt sind
einzelne oder mehrere Bereiche, wie beispielsweise bei der Legasthenie die Merkfähigkeit des Betroffenen und dessen Gedächtnis für Sprachsymbolik (vgl. nur OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. März 2007 -7 E 10212/07 – NJW 2007, 1993 [1993 m. w. N.]).
Legasthenie – nichts anderes gilt für Dyskalkulie – ist daher dem Bereich der nicht seelischen
Leistungsstörungen zuzuordnen (VG Gera, Urteil vom 13. September 2007 – 6 K 757/06 Ge – ThürVBl. 2008, 140-142).

Das Merkmal des Abweichens der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand ist jedoch dann erfüllt, wenn es als Sekundärfolge der Legasthenie oder Dyskalkulie zu einer seelischen Störung oder psychosomatischen Störung des Kindes oder Jugendlichen kommt, so
dass deshalb seine seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter
typischen Zustand abweicht. Beim Vorliegen einer solchen sekundären seelischen Störung („sekundäre Neurotisierung“) besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach§ 35a Abs. 1
Nr. 2 SGB VIII dann, wenn infolge der sekundären seelischen Störung die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen an der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Dafür genügt nicht das Bestehen einer jeden sekundären seelischen Störung infolge einer Legasthenie und/oder Dyskalkulie. Die Störung muss vielmehr nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt (BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 – BVerwG 5 C 38/97 – FEVS 49, 487 bis 489). Das ist beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, beim Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei einer Vereinzelung in der Schule anzunehmen, nicht aber bereits bei schulischen Problemen und schulischen Ängsten, die andere Kinder und Jugendliche teilen.

Für die Frage der (drohenden) Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft kommt es vor allem auf die Beziehungen zu Familienangehörigen, Gleichaltrigen und Erwachsenen außerhalb der Familie an. Ferner ist maßgeblich, wie soziale Situationen bewältigt werden (allgemeine Selbständigkeit, lebenspraktische Fähigkeiten, persönliche Hygiene und Ordnung). Weiter kommt es auf die schulische Anpassung an. Schließlich sind Interessen und Freizeitaktivitäten maßgeblich (vgl. Kunkel, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII, in: Das Jugendamt 2007, 17 [19]).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen war in dem in Rede stehenden Leistungszeitraum die Fähigkeit der Klägerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt, weil ihre seelische Gesundheit längerfristig von dem für Jugendliche ihres Lebensalters typischen Zustand abweicht. Zwar war die Klägerin sehr gut in den engeren Familienverband (Eltern und Geschwister) integriert. Insoweit sind die Feststellungen des Jugendamtes zutreffend. Allerdings hat das Jugendamt sich elementarer Gesichtspunkte verschlossen, die für die Feststellung der drohenden Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft relevant sind. Diese wurden von den verschiedenen Sachverständigen übereinstimmend hervorgehoben. Nicht zuletzt die Eltern der Klägerin haben sie wiederholt vorgetragen, wobei die Erklärungen der Mutter wegen deren berufsmäßigen Umgangs mit Kindern ein besonderes Gewicht zukommt. Die Klägerin war bereits in der Schule, soweit es um das Fach Mathematik ging, ausgeschlossen. Sie war überdies in ihren Beziehungen zu den Angehörigen des erweiterten Familienverbandes (Großeltern) gehandicapt. Die Klägerin hatte sich vom Freundeskreis gleichaltriger Kinder – die sportlichen Aktivitäten einmal ausgenommen – zurückgezogen und jüngere Kinder zum Spielen gesucht, bei denen sie in Bezug auf ihre
mathematischen Fertigkeiten „nichts zu befürchten“ hatte. Die Klägerin konnte wegen der Dyskalkulie schließlich bestimmte Alltagssituationen, die für Kinder ihres Alters unproblematisch waren, nicht bewältigen (z. B. selbständiges Überprüfen des Wechselgeldes beim Einkaufen).

Für diese Würdigung sind folgende Feststellungen und Erwägungen maßgeblich:
Nach der knappen, aber in sich schlüssigen sozialmedizinischen Stellungnahme der Kinder-
und Jugendamtsärztin XXX vom 25. August 2005 war die Klägerin von einer seelischen Behinderung bedroht und wurden bei ihr Persönlichkeits- bzw. Entwicklungsstörungen (F 6, F8) diagnostiziert. Dabei bezog sich die Amtsärztin auf die Stellungnahme des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes vom 12. Mai 2005, die Ermittlung der Vorgeschichte der Krankheit sowie vor allem ein Gespräch mit den Eltern der Klägerin. Die Amtsärztin empfahl eine zwei Jahre lang anhaltende Dyskalkulietherapie bei dem ZTR Gera-Altenburg. Die Stellungnahme der Amtsärztin entspricht den gesetzlichen: Vorgaben. Es liegt. insbesondere kein Verstoß gegen § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII vor, da diese Vorschrift erst zum 1. Oktober 2005 in Kraft getreten ist.

Die amtsärztliche Stellungnahme vom 25. August 2005 deckt sich im Wesentlichen mit den Feststellungen der Dyskalkulietherapeutin Heyber vom 30. April 2004. Sie hatte bei der Klägerin zu Beginn der Lerntherapie festgestellt, dass sie durch den schulischen und häuslichen Umgang mit ihrer Dyskalkulie permanent überfordert werde. Das extensive, aber bei Rechenschwäche immer erfolglose zusätzliche Üben des Schulstoffes führe auch bei ihr zu die Persönlichkeit deformierenden Selbstzweifeln und Selbstbewusstseinsverlusten. Dabei sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, sich bei Chronifizierung der Rechenstörung die sekundär-symptomatischen psychischen Folgen über das bereits jetzt erkannte Maß hinaus deutlich zeigen werden. Die Therapeutin hatte in ihrem Testbericht vom 30. April 2004 ferner festgehalten, dass die Klägerin wegen ihrer Rechenschwäche gegenüber den Eltern unwillig ist, sich in Ausreden f1üchtet, ein schnelles Ermüden vorschiebt, dem Zusammentreffen mit anderen Familienangehörigen wegen der Rechenschwäche ausweicht, und sich jüngere Spielkameradinnen gesucht hatte oder allein spielte.

In der Stellungnahme des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes betonte die Zeugin XXX,
dass die ständigen Misserfolge sich auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin
sehr negativ auswirkten. Sie habe kaum Vertrauen in ihre eigene Leistungsfähigkeit. Ihr vermindertes Selbstwertgefühl beeinflusse ihr seelisches Gleichgewicht negativ. Die Zeugin XXX hat in der Beweisaufnahme glaubhaft bekundet, die Klägerin habe eine erhöhte Angst vor dem Fach Mathematik gehabt, was in Richtung einer „Phobie“ gegangen sei. Damit meinte sie, dass die Klägerin „furchtbare Angst“ gehabt habe. Dies habe zu einem verminderten Selbstwertgefühl geführt. Es sei deutlich geworden, dass die Klägerin versucht habe, ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit zu überspielen.

Auch der Umstand, dass die .Eltern der Klägerin ihre Tochter im Schuljahr 2004/2005 von dem Mathematikunterricht haben befreien lassen, weil das Kind unter massiven
Versagensängsten gelitten und sich zurückgezogen hatte – ein Gesichtspunkt, den der
Beklagte unverständlicherweise nicht erkennbar ins Kalkül gezogen hat -, spricht dafür, dass
eine seelische Erkrankung im Sinne des § 35a Abs. l Satz 1 SGB VIII drohte, die die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft, insbesondere ihre angemessene Schulausbildung, beeinträchtigte. Die Eltern der Klägerin hatten in ihren an das Schulamt bzw. den Beklagten gerichteten Anträgen vom Juni 2004 und vom Juli 2005 detailliert vorgetragen, dass ihre Tochter in ihrem Selbstbewusstsein beeinträchtigt sei. Sie sei – anders als vor dem Beginn der Grundschu1e – seelisch sehr angespannt, was sich daran zeige, dass sie häufig ohne ersichtlichen Grund zu weinen anfange, mit den Zähnen knirsche, ihre Haare kaue, häufig über Bauch- und Kopfschmerzen klage. Sie hätten auch-Kontaktstörungen zu Gleichaltrigen festgestellt. Der Vater der Klägerin hat in dem Erörterungstermin vom 2. Juli 2007 plastisch davon gesprochen, dass zu Hause ein regelrechter „Bürgerkrieg“ mit Schreien und Weinen des Kindes geherrscht habe.

Demgegenüber darf nicht allein darauf abgestellt werden, dass die Klägerin aufgrund des Einsatzes ihrer Eltern familiär gut integriert war. Entscheidend ist, dass bei ihr chronische Versagensängste und ein damit verbundenes Rückzugsverhalten vorlagen. Dies wurde nicht allein von den Eltern beobachtet, sondern haben auch verschiedene Zeuginnen, wenn auch zum ‚Teil nur ansatzweise, wahrgenommen. Die Zeugin XXX, die drei Jahre lang Klassenlehrerin der Klägerin war, hat in ihrer Einvernahme in der Beweisaufnahme glaubhaft erklärt, die Klägerin habe ganz „bestimmt Selbstwertprobleme“ gehabt. Ihr gezeigtes Verhalten sei bestimmt vielfach nur der „äußere Schein“ gewesen. Aus diesem Grund hat die
Zeugin XXX in ihrer vom Jugendamt eingeholten schriftlichen Stellungnahme auch herausgestellt, die Klägerin „wirke“ immer selbstbewusst. Damit wollte sie zum Ausdruck bringen, dass dieses Verhalten bei der Klägerin nur nach dem äußeren Anschein so gewesen sei, aber nicht der Realität entsprach.
Genauso hat die Zeugin XXX, die die Klägerin in der Wiederholungsklasse zunächst im Fach Deutsch und ab der Klasse 4 auch im Fach Mathematik unterrichtete, festgestellt, dass die Klägerin über sehr geringes Selbstvertrauen verfügt und sich ihr Selbstwertgefühl erst im Laufe der Zeit gesteigert habe. Schließlich hat die Zeugin XXX, die die Klägerin im Fach Mathematik in der Wiederholungsklasse 3 unterrichtete, diese als anfänglich „sehr bedrückt“ beschrieben.

c) Die Klägerin durfte von dem Beklagten nicht auf die vorrangige Leistungsverpflichtung der Schule verwiesen werden (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Die Maßnahmen der Schule reichten nicht aus, um ihre angemessene Schulausbildung und die Eingliederung in die Gesellschaft sicher zu stellen.

Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII werden Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schule, durch dieses Buch nicht berührt. Die durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz vom 8. September 2005 mit Wirkung vom 1. Oktober 2005 erfolgte Fassung des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat im Vergleich zu der früheren Gesetzesfassung zu keiner sachlichen Änderung geführt. Damit besteht grundsätzlich ein Nachrang von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber der Leistungspflicht der Schule, und zwar auch bei der an Legasthenie und Dyskalkulie leidenden Kindern und Jugendlichen.

Zugleich bestimmt § 35a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit § 54 Abs. 1 Nr. 1 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII), dass Leistungen der Eingliederungshilfe auch Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung sind, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht; die Bestimmung über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleibt unberührt. Außerschulische Maßnahmen der Lerntherapie dürfen als Eingliederungshilfe gewährt werden, wenn die schulische Förderung nicht ausreicht (vgl. Wiesner, a.a.O., § 10 Rdnr.23; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. April 1999 – 24 A l18/96 -; Hessischer VGH, Beschluss vom 13. März 2001 – 1 TZ 2872/00 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4. Juli 2006 – 2 U 20/06 – zitiert nach Juris). Ein Hilfesuchender darf nur dann auf Leistungen der Schule verwiesen werden, wenn der durch die Eingliederungshilfe zu deckende Bedarf auf diese Weise tatsächlich und rechtzeitig befriedigt wird (VG Arnsberg, Urteil vom 3. April 2004 – 11 K 2609/02 – m. w. N., zitiert nach Juris).
Bei Anwendung dieser Grundsätze reichte die Förderung der Klägerin in der Grundschule nicht aus. Die Klägerin besuchte seit dem Schuljahr 2002/2003 die Grundschule. Sie wurde ferner durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst gefördert. Diese Fördermaßnahmen reichten aber nicht aus, um der Klägerin das Rüstzeug mitzugeben, um Rechenaufgaben und mathematische Operationen zu verstehen. Dies hat unter anderem die Zeugin XXX in ihrer Einvernahme erläutert. Frau XXX, die wie angesprochen die Klägerin in der Wiederholungsklasse 3 unterrichtete, hat ausgeführt, dass auf die Klägerin positiv durch drei Säulen eingewirkt werden musste, und zwar durch die Schule, den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst und das ZTR Gera-Altenburg. Dies steht mit der Stellungnahme der Dyskalkulietherapeutin Heyber vom 30. April 2004 in Einklang, die festgestellt hatte, dass bei der Klägerin eine „Unkenntnis bereits im pränumerischen Bereich“ vorliege und die fehlende Basis … sachlogisch richtig erarbeitet bzw. aufgearbeitet werden“ müsse.

Die Kammer misst den Bekundungen der sachverständigen Zeuginnen – als langjährige Pädagoginnen verfügen sie in Bezug auf die in Rede stehenden Fragen über eine besondere Sachkunde (vgl. § 98 VwGO, § 414 der Zivilprozessordnung – ZPO -) – einen erheblichen Wert zu. Die Bekundungen der Zeuginnen enthalten den Tenor, dass die Lerndefizite und Förderbedürfnisse der Klägerin sich allein durch schulische Maßnahmen nicht abdecken ließen.

d) Die Bewilligung der Lerntherapie war für die Eingliederung der Klägerin auch die geeignete und erforderliche Maßnahme im Sinne des § 36 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB VIII.
Nach der vorgenannten Bestimmung soll – hierauf weist der Beklagte zutreffend hin – die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellung über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält. Da die Hilfebewilligung aufgrund dieses kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses erfolgt und nicht den Anspruch erhebt, eine objektiv richtige, sondern lediglich eine angemessene, fachlich vertretbare nachvollziehbare Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation zu sein, besteht nur eine eingeschränkte verwaltungsgerichtliche Kontrolle (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 – BVerwG 5 C 24.98 – BVerwGE 109, 155 [167], OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. März 2003 – 12 A 122/02 – FEVS 55,16-22, zitiert nach Juris Rd.-Nr. 28; Wiesner, a.a.0. § 35a Rdnr. 31).
Ein Beurteilungsspielraum des Beklagten kommt allerdings nicht zum Tragen. Dies beruht darauf, dass weder der Beklagte dargelegt hat noch sonst für die Kammer ersichtlich ist, welche andere fachlich vertretbare Eingliederungsmaßnahme als die Dyskalkulietherapie bei dem ZTR Gera-Altenburg in Betracht kommen sollte.

II. Der Beklagte ist verpflichtet der Klägerin Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Gestalt der Übernahme der Kosten für den wöchentlichen Besuch der Dyskalkulietherapie im ZTR Altenburg-Gera vom Beginn des Leistungszeitraums im April 2005 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides am 17. Januar 2007 zu gewähren. Die Voraussetzungen lagen in dieser Zeit vor. Dazu wird auf die vorstehenden Ausführungen (I.) Bezug genommen.

Etwaige bei der bei Durchführung der Eingliederungsmaßnahme angefallener Kosten für die Fahrten der Eltern der Klägerin zur ambulanten Lerntherapie werden von der Kostentragungspflicht des Beklagten mit umfasst (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2007 – BVerwG 5 C 32.05 – NJW 2007, 186-188).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nach § 162 Abs. 3 VwGO nicht erstattungsfähig. Er hat weder zur Sache vorgetragen noch einen Antrag gestellt, so dass die ihm entstandenen Kosten nicht aus Gründen der Billigkeit dem Beklagten auferlegt werden dürfen. Das Verfahren ist gemäß § 188 VwGO gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Vollstreckungsabwendungsbefugnis beruht auf § 167 Abs. 2 in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).