VG Leipzig 14.12.07

Abschrift
Az.: 5 K 1733/05
Verwaltungsgericht Leipzig
… Urteil
(…) gegen den Landkreis Delitzsch (…) Beklagter
wegen Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII (…)
für Recht erkannt: (…) 2. Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 5.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 24.11.2005 verpflichtet, die Kosten der Therapie des Klägers im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Leipzig für den Zeitraum ab dem 1. Schulhalbjahr 2005/2006 bis einschließlich März 2007 in Höhe von 55,45 EUR pro Therapiestunde zu übernehmen. (…)

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Bewilligung der Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie im Studienkreis Eilenburg durch den Beklagten und begehrt die Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Leipzig (ZTR) durch den Beklagten.

(…) Kläger beantragte über seine gesetzlichen Vertreter am 25.4.2005 bei dem Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Dyskalkulie-Therapie beim ZTR. Der Kläger stützte seinen Antrag auf den Bericht des ZTR zum am 17.11.2004 erfolgten Dyskalkulie-Test, die Stellungnahme der Zeugin (Schulpsychologin XXX) vom 24.2.2005, eine fachliche Stellungnahme der Fachärztin für Kinderheilkunde/Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 12.4.2005 sowie den Schulbericht vom 4.2.2005 der Evangelischen Grundschule Bad Düben. Unstreitig ist zwischen den Beteiligten, dass sämtliche dieser eingeholten Stellungnahmen belegen, dass beim Kläger der Hilfebedarf besteht. Er gehörte zu dem Personenkreis, der nach § 35a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i.V.m. § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 47 des Bundessozialhilfegesetzes Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Dass der Kläger jedenfalls von einer seelischen Behinderung im Sinne der genannten Vorschriften bedroht war, ist zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig. Durch den Bericht des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) vom 25.5.2005 befürwortete die zuständige Sozialarbeiterin die Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe (Dyskalkulie-Therapie), um einer drohenden seelischen Behinderung es Klägers wirksam begegnen zu können.

Der Kläger absolvierte bereits seit dem 10.11.2004 auf Initiative seiner gesetzlichen Vertreter eine Dyskalkulie-Therapie beim ZTR. Der vorliegend geltend gemachte Anspruch bezog sich zunächst auf den gesamten Zeitraum der Therapie und wurde im Termin der mündlichen Verhandlung am 14.9.2007 auf den Zeitraum vom Beginn des ersten Schulhalbjahres 2005/2006, d.h. dem 1.8.2005, bis zum Therapieende am 31.3.2007 beschränkt.

Mit Bescheid vom 5.7.2005 gewährte der Beklagte dem Kläger die Kostenübernahme für 40 Therapieeinheiten zu je 45 Minuten im Studienkreis Eilenburg während des ersten Schulhalbjahres 2005/2006. Der Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII wegen einer drohenden seelischen Behinderung wird mit diesem Bescheid anerkannt. Der Bescheid nimmt insofern Bezug auf die vorgelegten Gutachten. Zur weiteren Begründung führte der Beklagte aus, dass ihm ein Angebot zur Durchführung einer Therapie von ZTR und Studienkreis Eilenburg vorliege. An der fachlichen Eignung beider Einrichtungen bestünden keine Zweifel. Die Betreuer des Studienkreises Eilenburg, die sich mit den Kindern befassten, verfügten durchgehend über ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Pädagogik und eine Zusatzausbildung Dyskalkulie. Als günstig sei die räumliche Nähe zwischen der Grundschule, welche der Kläger besuche, und der Außenstelle des Studienkreises Eilenburg in Bad Düben zu beurteilen. Bei der Entscheidung über die Kostenübernahme spielten die sehr unterschiedlichen Kosten zwischen beiden Anbietern eine wesentliche Rolle. Laut Vertragsangebot werde vom Studienkreis Eilenburg für eine Therapieeinheit 18,33 EUR berechnet, während das ZTR hingegen für eine Leistungsstunde 55,45 EUR verlange. Die Therapiekosten im ZTR seien somit umgerechnet dreimal so hoch wie im Studienkreis Eilenburg. Diese Mehrkosten seien als unverhältnismäßig gem. § 5 2 SGB VIII zu beurteilen, sodass vorliegend die Therapie im Studienkreis Eilenburg durch den Jugendhilfeträger zu finanzieren sei. Daran ändere nichts, dass der Kläger bereits eine Dyskalkulie-Therapie im ZTR, die von seinen Eltern finanziert werde, besuche. Die Selbstbeschaffung ändere nichts an den unverhältnismäßigen Mehrkosten, die das Jugendamt nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht zu übernehmen brauche.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 13.7,2005, eingegangen bei dem Beklagten am 18.7.2005, Widerspruch ein. Zur Begründung führte der Kläger aus, dass die von ihm aufgenommene Therapie beim ZTR geeignet und nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sei. Geeignet sei die Therapie schon deshalb, weil bereits die ersten Monate der Therapie erste Erfolge zeigten. Ein Wechsel der Betreuungspersonen im Rahmen der Therapie sei vorliegend nicht zu verantworten gewesen. Nach einer Therapiedauer von fast einem halben Jahr bedinge bei einem psychisch nicht stabilen jungen Menschen ein Wechsel der Therapieeinrichtung und der Betreuungspersonen zwangsläufig eine Stagnation beziehungsweise einen Rückschritt bei der Therapie und eine erneute psychische Irritation. Auch müsse davon ausgegangen werden, dass die Inanspruchnahme des ZTR nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sei. Diesbezüglich sei zu hinterfragen, ob bei dem vorgenommenen Kostenvergleich tatsächlich gleiche Leistungen verglichen worden seien. Ausweislich der Internetpräsenz des Studienkreises Eilenburg werde im Leistungsumfang zwar eine so genannte Rechenschule benannt, jedoch werde in keiner der Leistungsbeschreibungen auf eine spezielle Dyskalkulie-Therapie hingewiesen. Sofern aus den Verwaltungsakten ersichtlich sei, dass der Beklagte auf Grund einer telefonischen Information des Leiters des Studienkreises Eilenburg davon ausgehe, dass die Dyskalkulie-Therapie ausschließlich von ausgebildeten Pädagogen mit einem Studienabschluss und einer Sonderausbildung Dyskalkulie vorgenommen werde, sei dies nicht nachgewiesen. Auch sei zu hinterfragen, wie es möglich sei, dass der Studienkreis Eilenburg eine qualifizierte Dyskalkulie-Therapie zu einem Preis von 18,33 EUR pro Stunde anbieten könne, da es als feststehend angesehen werden müsse, dass eine qualifizierte pädagogische Fachkraft unter Einbeziehung zusätzlicher anfallender Vorhalte- und Regiekosten des jeweiligen Unternehmens nicht für diesen Preis tätig sein könne. Ausweislich der Homepage des Studienkreises Eilenburg stelle dieser an eine Lehrkraft lediglich die Anforderung, dass sie über Fachkenntnisse und pädagogisches Geschick im Umgang mit Schülern sowie einen Aufenthaltstitel ohne Einschränkung verfügen müsse. Ein abgeschlossenes Hochschulstudium auf dem Gebiet der Pädagogik oder ähnlichem werde ausdrücklich nicht gefordert. Zudem handele es sich bei der bewilligten Therapie beim Studienkreis Eilenburg – anders als beim ZTR – um keine Einzeltherapie, sondern um eine Gruppentherapie.

Mit Widerspruchsbescheid des Landratsamts Delitzsch vom 24.11.2005, der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 25.11.2005 zugestellt, wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass nicht nachvollziehbar sei, warum die von dem Studienkreis Eilenburg angebotene Dyskalkulie-Therapie ungeeignet sei. Nach Auskunft des Leiters des Studienkreises Eilenburg würde mit dem Kläger einmal pro Woche eine Einzeltherapie von einer Schulstunde durchgeführt werden und darüber hinaus eine zweite Schulstunde, in der in einer Kleingruppe adäquater Schulstoff aufgearbeitet werde. Der Leiter des Studienkreises Eilenburg habe den Beklagten am 23.11.2005 erneut telefonisch ausdrücklich versichert, das sämtliche Unterrichtskräfte bei ihm über einen pädagogischen Hochschulabschluss und darüber hinaus über die Zusatzqualifikation Dyskalkulie verfügten. Somit seien die Leistungen des ZTR Leipzig und des Studienkreises Eilenburg sehr wohl miteinander vergleichbar. Allein aus dem Preisunterschied der Leistungen könne nicht auf eine unzureichende Qualifikation des bundesweit verbreiteten Studienkreises geschlossen werden.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 15.12.2005 Klage erhoben. Über sein bisheriges Vorbringen hinaus führt er aus, dass die von dem Beklagten angebotene Therapie beim Studienkreis Eilenburg nicht geeignet sei, das Ziel der begehrten Eingliederungshilfe zu erreichen. Die Leistungen von ZTR und Studienkreis Eilenburg seien qualitativ nicht vergleichbar. Daher handele es sich bei den Kosten des ZTR auch nicht um unverhältnismäßige Mehrkosten. Das Angebot des Studienkreises Eilenburg entspreche weder konzeptionell noch personell dem aktuellen Stand der Dyskalkulie-Forschung. Ausweislich der Leistungsbeschreibung des Studienkreises Eilenburg basiere dessen Dyskalkulie-Therapie auf dem Dortmunder Zahlenbegriffstraining beziehungsweise dem Rechenschwächekonzept Moog/Schulz. Dieses Konzept sei jedoch aus fachwissenschaftlicher Sicht nicht geeignet, den von der Dyskalkulie Betroffenen zu helfen und damit das begehrte Eingliederungsziel zu erreichen. Es stelle darauf ab, das dyskalkulierelevante Zählen lediglich zu verbessern, aber nicht zu beseitigen. Es versuche, aus Fingerzählern Kopfzähler zu machen und beschränke sich somit auf den Schulstoff der ersten Klasse. Es handele sich um kein Dyskalkulie-Therapiekonzept, sondern um eine Anleitung zur Chronifizierung von Rechenschwäche mit anschließender Nachhilfe. Nachhilfe orientiere sich im Wesentlichen am aktuellen Lernstoff. Die von dem Studienkreis Eilenburg angebotene Leistung beinhalte eben diese Nachhilfe, in der in einer kleinen Gruppe adäquater Schulstoff aufgearbeitet werde. Dabei handele es sich jedoch nicht um eine qualifizierte Dyskalkulie-Therapie. Hinzu komme, dass der Studienkreis Eilenburg keine Rechenschwächespezialeinrichtung sei. Dies zeige sich schon darin, dass die Lehrkräfte kein erfolgreich abgeschlossenes Hochschulstudium in den Fächern Psychologie, Pädagogik und anderen Wissenschaften gefordert werde, die einen klaren Bezug zur lerntherapeutischen Tätigkeit erkennen lassen, keine dreijährige Ausbildungspraxis mit mindestens 20 Wochenstunden im Bereich Diagnostik, Beratung und Therapie sowie kein Nachweis von mindestens 150 Stunden Fortbildung während der letzten drei Jahre auf lerntherapeutischem, fachdidaktischem und sozialpädagogischem Gebiet. Auch verfügten die Lehrkräfte des Studienkreises Eilenburg nicht über die erforderliche psychologische Kompetenz, die aber erforderlich sei. Es könne nicht auf der einen Seite gefordert werden, dass die Gefahr einer seelischen Behinderung für den Anspruch auf Eingliederungshilfe vorliegen müsse, auf der anderen Seite jedoch nicht sichergestellt werde, dass die Leistungserbringer auch über eine psychologische Kompetenz verfügten, die geeignet sei, Einfluss zu nehmen auf die seelische Behinderung der Betroffenen.

Das Gutachten des ZTR stelle lediglich die Diagnose Dyskalkulie. Zum Vorliegen beziehungsweise Drohen einer seelischen Beeinträchtigung sage das Gutachten nichts aus. Das Gutachten sei damit nicht anspruchsbegründend. Deshalb sei ein gesondertes amtsärztliches Gutachten eingeholt worden.
Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 5.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2005 zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe in Form der Kostenerstattung für die Dyskalkulie-Therapie beim ZTR Leipzig/Markkleeberg für den Zeitraum des ersten Schulhalbjahres 2005/2006 bis zum März 2007 in Höhe von 55,45 EUR je Therapiestunde zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist der Beklagte auf die Gründe der angefochtenen Bescheide und führt darüber hinaus aus, dass eine Dyskalkulie-Therapie beim ZTR bereits deshalb ausscheide, weil das ZTR die Begutachtung des Klägers vorgenommen habe. § 35a Abs. 1a Satz 4 SGB VIII wolle jedoch gerade vermeiden, dass die notwendige Eingliederungshilfe durch die begutachtende Stelle erbracht werde, um die Neutralität der Begutachtung zu sichern.

Am 14.92007 und 22.11.2007 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Darin hat die Kammer Beweis erhoben zur Eignung des ZTR und des Studienkreises Eilenburg für die Durchführung einer Dyskalkulie-Therapie durch Zeugenvernehmung der Leiter der Einrichtungen, Dr. Steffen und Dr. Lychatz, sowie zur Eignung dieser Therapien durch Vernehmung der Schulpsychologin XXX. Auf den Inhalt der Niederschriften über die jeweilige mündliche Verhandlung wird verwiesen. Zugleich hat die Kammer Beweis erhoben zur Höhe der Stundensätze für eine Dyskalkulie-Therapie im überregionalen Bereich. Auf die hierzu schriftlich von den angefragten Unternehmen erteilten Auskünfte wird verwiesen.

In der mündlichen Verhandlung am 14.9.2007 hat die Mutter des Klägers mitgeteilt, dass die Dyskalkulie-Therapie beim ZTR seit Ende März 2007 vom Kläger erfolgreich abgeschlossen wurde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten (1 Heft) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der ihm durch die Inanspruchnahme des ZTR im Zeitraum vom 1.8.2005 bis Ende März 2007 entstandenen Kosten. Der Ausgangsbescheid des Beklagten vom 5.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 24.11.2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, die für die Dyskalkulie-Therapie des Klägers entstandenen Kosten beim ZTR zu übernehmen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Anspruchsgrundlage für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren des Klägers ist § 35a des Sozialgesetzbuches, Achtes Buch (Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII) in der Fassung des Gesetzes v. 26.6.1990, BGBI. I S. 1163. Nach dieser Vorschrift haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers dem Grund nach erfüllt.

Die „seelische Behinderung“ ist nach Auffassung der Kammer in Fällen der vorliegenden Art in drei Schritten festzustellen: Zunächst muss eine Teilleistungsstörung (z.B. Dyslexie/Legasthenie, Dyskalkulie oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) vorliegen. Diese Teilleistungsstörung muss Hauptursache für eine „seelische Störung“ (Neurose oder sonstige seelische Störung) sein, die ihrerseits zu Beeinträchtigungen bei der „Eingliederung in die Gesellschaft“ (Störung des Sozialverhaltens mit dem Ergebnis einer dissozialen Entwicklung, einer so genannten sekundären Neurotisierung) führt. Soweit es um das „Drohen“ einer seelischen Behinderung geht, muss die Teilleistungsstörung selbst zweifelsfrei festgestellt werden. Ist infolge der Teilleitungsstörung eine „seelische Störung“ entstanden, bedarf es einer Prognose, dass deshalb mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad Beeinträchtigungen bei der „Eingliederung in die Gesellschaft“ eintreten werden. Auf den Kläger bezogen ist zumindest von einer „drohenden Behinderung“ auszugehen, was im Übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Er litt an einer Teilleistungsstörung in Form der Dyskalkulie.

Damit hat der Kläger grundsätzlich Anspruch auf die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um der drohenden Behinderung entgegenzuwirken. § 35a SGB VIII verweist insoweit auf die § 53 Abs. 3, § 54 SGB XII. Nach der erstgenannten Bestimmung ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe gehört auch die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 54 Abs. 1 Nr, 1 SGB XII). Hierunter fällt auch die Therapie gegen eine Rechenschwäche.

Der Anspruch wird vorliegend nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass die Eltern des Klägers vor Antragstellung bei der Behörde die Behandlung ohne Zustimmung und Mitwirkung des Beklagten begonnen, sich mithin die streitige Leistung selbst beschafft haben. Der geltend gemachte Anspruch betrifft nach dem nunmehrigen Antrag des Klägers den Zeitraum vom 1.8.2005 bis einschließlich März 2007 und somit einen Zeitraum nach der Antragstellung bei dem Beklagten. Nach der Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht eine solche „Selbstbeschaffung“ dem Anspruch nicht entgegen. Der Beklagte muss auch für bei ihm beantragte Maßnahmen eintreten, die er tatsächlich (bislang) nicht verantwortet hat, wobei ihm die materiell-rechtlichen Leistungsvoraussetzungen unberührt bleiben (…).
Der Anspruch des Klägers gegen den Beklagten ist ferner nicht gemäß § 10 SGB VIII durch den grundsätzlichen Nachrang der Jugendhilfe gegenüber Maßnahmen aus dem Schulbereich ausgeschlossen, weil der Kläger entsprechend einer Auskunft der Klassenleiterin der von ihm besuchten Schule an einer schulischen Fördermaßnahme teilgenommen hatte. Dies wird auch durch die Schulpsychologin XXX bestätigt. Anhaltspunkte dafür, dass die Schule weitergehende Fördermaßnahmen hätte anbieten oder diese vom Kläger hätten durchgesetzt werden müssen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Einwand des Beklagten, dass eine Dyskalkulie-Therapie beim ZTR auch deshalb ausschiede, weil das ZTR die Begutachtung des Klägers vorgenommen habe, geht fehl. Zwar ist der Kläger auch vom ZTR begutachtet worden, jedoch basiert die Feststellung einer drohenden seelischen Behinderung und der Notwendigkeit einer Dyskalkulie-Therapie nicht allein auf diesem Gutachten. Vielmehr ist der Kläger auch durch die Schulpsychologin XXX am 24.2.2005, durch eine Fachärztin für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie am 12.4.2005 und durch den Allgemeinen Sozialen Dienst begutachtet und der Eingliederungsbedarf festgestellt worden. § 35a Abs. 1a Satz 4 SGB VIII, der regelt, dass die Hilfe nicht von der Einrichtung erbracht werden soll, der die Person angehört, die die Stellungnahme der Abweichung der seelischen Gesundheit abgibt, soll sicherstellen, dass keine „Fallbeschaffung“ durch die Angehörigen der Therapieeinrichtungen erfolgt. Dies jedoch vorliegend nicht der Fall. Ausweislich der vorgelegten Verwaltungsakte des Beklagten war für den Hilfeausschuss das Gutachten des Allgemeinen Sozialen Dienstes maßgeblich, der entscheidend Bezug nimmt auf das Ergebnis der Begutachtung durch die Schulpsychologin XXX und die Fachärztin XXX. Lediglich in der Anamnese wird auf die Begutachtung durch das ZTR verwiesen. Es ist also keineswegs so, dass allein die Begutachtung durch das ZTR die drohende seelische Behinderung des Klägers festgestellt hat. Insbesondere war dieses Gutachten nicht Gegenstand der Beratung im Hilfeausschuss des Beklagten, der die Eingliederungshilfe (Dyskalkulietherapie) für den Kläger beschlossen hat.

Dem Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII steht schließlich nicht entgegen, dass die von ihm gewählte Hilfeart, nämlich die Förderung durch das ZTR, mit unverhältnismäßigen Mehrkosten im Sinne von § 5 Abs. 2 SGB VIII verbunden ist.
Nach § 5 Abs. 1 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten das Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Nach Absatz 2 der Vorschrift soll der Wahl und den Wünschen entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.

Vorliegend scheitert das ausgeübte Wahlrecht des Klägers nicht bereits daran, dass das ZTR kein geeigneter Träger der erforderlichen Eingliederungshilfe ist. Demgegenüber scheidet der vom Beklagten bevorzugte Studienkreis Eilenburg als geeigneter Träger aus, weil er die vom Kläger benötigte Hilfe nicht hätte leisten können. Einen anderen geeigneten Träger hat der Beklagte nicht benannt. Dementsprechend kommt es auf den Kostenvergleich zwischen den beiden Trägern nicht an. Die Kosten der Therapie beim ZTR liegen je Therapiestunde etwa 20 Prozent über dem überregionalen Durchschnitt. Sie sind damit zwar an der oberen Grenze, jedoch nicht unverhältnismäßig hoch und vom Beklagten zu tragen.

Zunächst kommt das ZTR, obwohl es ein kommerzieller Leistungsanbieter ist, als wählbarer Träger im Sinne von § 5 Abs. 2 SGB VIII in Betracht. Weder dem Gesetzeswortlaut noch dem gesetzgeberischen Willen lässt sich entnehmen, dass Kinder- und Jugendhilfeleistungen nicht von freiberuflichen oder privatgewerblich tätigen Anbietern durchgeführt werden dürfen.

Das ZTR ist zur Durchführung von Eingliederungshilfemaßnahmen bei einer Dyskalkulie auch geeignet. Darin besteht zwischen den Beteiligten Konsens. Auch die Kammer ist der Auffassung, dass das ZTR als auf die Therapie der Dyskalkulie spezialisierte Einrichtung die notwendigen Hilfemaßnahmen zur Behebung einer Dyskalkulie und Förderung der daran leidenden Kinder in besonderem Maße leisten kann.

Die Entscheidung über die Art, den Umfang und die zeitliche Dauer der Hilfe hängt maßgeblich von der Beurteilung der Notwendigkeit der Hilfe aufgrund der individuellen Situation des Betroffenen ab und wird davon noch inhaltlich geprägt. Insoweit steht dem Beklagten kein Beurteilungsspielraum zu (…).
Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. Jugendlichen und mehrer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsrechtliche Überprüfung hat sich vor diesem Hintergrund darauf zu beschränken, ob allgemein gültige Maßstäbe beachtet wurden, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden.

Daran gemessen bestehen an der festgestellten Notwendigkeit und Geeignetheit einer Dyskalkulie-Therapie in der Form einer Einzeltherapie keine Anhaltspunkte dafür, dass die Diagnose unter Verletzung der genannten Maßstäbe gestellt wurde. In der fachärztlichen Stellungnahme vom 12.4.2005 wird ausgeführt, dass der Kläger dringend individueller Hilfe und Förderung bedarf, da er aufgrund der verminderten Belastbarkeit in der Gruppensituation unter Zeitdruck nicht entsprechende Ergebnisse erzielt. Er sei dem Leistungsdruck nicht gewachsen. Daher geht auch der Beklagte zutreffend davon aus, dass der Kläger einer Einzeltherapie bedarf, was sich auch bei der Auswahl der geeigneten Einrichtung niederschlug. Der vom Beklagten gewählte Träger, der Studienkreis Eilenburg, bestätigte dem Beklagten auf ausdrückliche Anfrage in einem Telefonat vom 30.6.2005, dass die Therapie als Einzeltherapie mit wöchentlich zwei Therapieeinheiten durchgeführt werde. Neben den weiteren Voraussetzungen, dass die Therapeuten über einen Studienabschluss als Pädagogen in einem der Mathematik zumindest nahe stehendem Fachgebiet oder als Psychologen verfügen müssen, war die Durchführung der Therapie als Einzeltherapie wesentliches Entscheidungskriterium des Beklagten. Dies hat der Vertreter des Beklagten auch in mündlicher Verhandlung so bestätigt.

Im Ergebnis der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung und den in die mündliche Verhandlung eingeführten eigenen Recherchen der Kammer steht allerdings fest, dass der Studienkreis Eilenburg die Dyskalkulie-Therapie nicht als Einzeltherapie durchführt und damit zur Therapierung des Klägers nicht geeignet ist. Die dem entgegen stehenden Aussagen des Zeugen Dr. Lychatz als Leiter des Studienkreises Eilenburg gegenüber dem Beklagten und im Rahmen der gerichtlichen Beweisaufnahme sind offensichtlich unzutreffend. Ausweislich eines sich in der Verwaltungsakte befindlichen Werbeflyers des Studienkreises Eilenburg wird „die Förderung in der Regel in Kleingruppen von drei bis fünf Kindern gleicher Altersgruppen und mit ähnlichem Förderbedarf durchgeführt.“ Eine gleichlautende Aussage enthielt die Internetseite des Studienkreises Eilenburg (…). Von einer Einzeltherapie ist in der gesamten Präsentation nicht die Rede. Auf Vorhalt dieses Widerspruchs zu seinen Aussagen im Rahmen der Beweisaufnahme erklärte der Zeuge, dass die Präsentation durch den Franchisegeber bestimmt werde und er keinen Einfluss darauf habe. Tatsächlich finde die Therapie als Einzeltherapie statt. Im Zusammenhang mit seiner Gründung des Zentrums für Teilleistungsstörungen, LRS und Dyskalkulie in Leipzig am 1.2.2007 sei vertraglich festgelegt, dass er, der Zeuge Dr. Lychatz, selbst den Inhalt der Internetpräsentation mitbestimmen dürfe. Dort sei auch aufgewiesen, dass die Einzeltherapie angeboten werde. Diese Aussage ist unwahr. In der Internetpräsentation des Zentrums für Teilleistungsstörungen, LRS und Dyskalkulie (…) ist zur Frage, wie die Förderung stattfindet, ausgewiesen: „Die Förderung der Grundschüler findet in kleinen Lerngruppen von drei bis vier Kindern statt. Es hat sich gezeigt, dass eine Förderung in einer Kleingruppe ein individuelles Eingehen auf jeden Schüler ermöglicht, gleichzeitig aber näher an einer Klassensituation ist als eine Einzelförderung. Dadurch ist die Übertragung der Lerninhalte auf den Schulalltag eher möglich. Die Schüler erleben sich zudem, dass sie mit ihren Problemen nicht allein dastehen. In der Gruppe erfahren sie, dass auch andere Kinder ähnliche Schwächen haben. Dies wird den Schülern als sehr entlastend erlebt und macht Mut, sich dem problematischen Lernstoff zu nähern.“ Während die frühere Internetpräsenz des Studienkreises Eilenburg noch von einer regelmäßigen Gruppentherapie ausging, d.h. bei atypischen Fällen – wovon der Leiter des Studienkreises allerdings selbst nicht ausgeht – eine Einzeltherapie nicht völlig ausschloss, ist diese nunmehr gar nicht mehr erwähnt und liest sich die Internetpräsentation des vom Zeugen Dr. Lychatz betriebenen Zentrums für Teilleistungsstörungen, LRS und Dyskalkulie geradezu als Plädoyer gegen eine Einzeltherapie und für die Gruppentherapie.

Dafür, dass die Internetpräsentation die Wahrheit wiedergibt, spricht auch der vom Studienkreis Eilenburg angebotene Stundensatz von 18,33 EUR je Therapiestunde. Nach der Beweiserhebung der Kammer zu den Kosten einer Dyskalkulie-Einzeltherapie im überregionalen Vergleich werden regelmäßig Kosten zwischen 42,00 EUR und 55,45 EUR erhoben. Nur eine Therapieeinrichtung im ländlichen Raum liegt mit 25,00 EUR deutlich unter dem Durchschnitt, aber trotzdem noch 26,7 % über den vom Studienkreis Eilenburg erhobenen Kosten. Auch ist in dem in der Verwaltungsakte des Beklagten enthaltenen Entwurf einer Einzelvereinbarung zwischen dem Beklagten und dem Studienkreis Eilenburg als Leistungsinhalt lediglich enthalten „… 45 Minuten Arbeit mit dem Kind oder Jugendlichen (6 h/Monat) …“ bei einem Kostensatz für eine Therapieeinheit von 18,33 EUR, also hinsichtlich der Therapieform eine nichts sagende Formulierung, die jedenfalls nicht zwingend auf eine Einzeltherapie hindeutet.

Dem Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage des Leiters des Studienkreises Eilenburg, Dr. Lychatz, begegnen auch insoweit durchgreifende Bedenken, als er vortrug, dass die Schulpsychologin XXX in allen Fällen nach § 35a SGB VIII jeweils am Ende des bewilligten Therapiezeitraumes ein Gutachten über die Notwendigkeit der Fortsetzung der Therapie erstelle, was einer schulpsychologischen Begutachtung der Therapieeinrichtung gleichkäme. Diese Aussage hat die als Zeugin gehörte Schulpsychologin XXX nicht bestätigt. (…) Da die vom Beklagten ausgewählte Therapieeinrichtung für die erforderliche Einzeltherapie des Klägers nicht geeignet ist und der Beklagte keinen weiteren geeigneten Träger benannt hat, so dass die Wahl der Eltern keine weitere Einrichtung entgegengehalten wird, ist ein Kostenvergleich nicht durchzuführen. Ebenso ist eine Prüfung der weiteren Eignungsvoraussetzungen des Studienkreises Eilenburg entbehrlich.
(…)

Die Kosten des ZTR von 55,45 EUR je Einzeltherapiestunde sind nicht unverhältnismäßig, wenn man diese mit den überregional ermittelten Kosten für eine Dyskalkulie-Einzeltherapiestunde vergleicht. Unverhältnismäßig sind die Kosten dann, wenn diese nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung des Wunsches der Eltern stehen. Der Mehrkostenvorbehalt erschöpft sich allerdings nicht in einem reinen rechnerischen Vergleich, sondern verlangt auch eine wertende Betrachtungsweise, bei der das Gewicht der vom Kläger gewünschten Gestaltung der Hilfe im Hinblick auf seine individuelle Hilfesituation zu berücksichtigen ist (…).

(…)
Braun, Grau, Dr. Fiedler
Leipzig, den 14.12.2007