VG Leipzig 27.01.2011

Abschrift: VG Leipzig, Urteil vom 27.01.2011

Az.:5 K 904/09

VERWALTUNGSGERICHT LEIPZIG

lm Namen des Volkes

URTEIL

In der Verwaltungsstreitsache

des minderjährigen Kindes xxx, vertreten durch die Eltern xxx,

sämtlich wohnhaft: xxx

– Klägerin –

prozessbevollmächtigt:
Rechtsanwälte xxx,

gegen

die Stadt xxx, vertreten durch den Oberbürgermeister xxx
– Beklagte –

wegen

Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII

hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Leipzig durch die Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts xxx, den Richter am Verwaltungsgericht xxx, die Richterin am Verwaltungsgericht xxx, den ehrenamtlichen Richter xxx sowie den ehrenamtlichen Richter xxx auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2010

für Recht erkannt:

1.Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 31.7.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2009 verpflichtet, der Klägerin Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der tatsächlich erbrachten Kosten der Dyskalkulie-Therapie der Klägerin im ZTR Leipzig für die Zeit vom 1.8.2008 bis 30.11.2010 zu übernehmen und für die Zeit ab dem 4.12.2008 jeweils bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

VG Leipzig, 5 K 904/09, Urteil vom 27.01.2011
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4. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

5. Die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie.

Die am 30.4.1999 geborene Klägerin wurde im Jahr 2005 regelgerecht in die xxx in Leipzig eingeschult. Bereits seit Schulbeginn hatte die Klägerin nach Angaben der Eltern Schwierigkeiten, den im Fach Mathematik vermittelten Lernstoff zu begreifen. Insbesondere ab der dritten Klasse erzielte sie nur noch schlechte Noten (,,ausreichend“) in diesem Fach, während die Leistungen in anderen Fächern durchschnittlich waren. Am 20.5.2008 wurde die Klägerin im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) Halle-Leipzig auf das Vorliegen einer Dyskalkulie untersucht. Die durchgeführten Tests führten zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine gravierende, isolierte Entwicklungs-Dyskalkulie vorliege. Der Bericht des ZTR Halle-Leipzig vom 26.5.2008, auf den im Übrigen verwiesen wird, empfahl zur Überwindung der Dyskalkulie eine Dyskalkulie-Therapie im Umfang von circa 100-120 einzeltherapeutischen Sitzungen bis zum Heranführen an den aktuellen schulischen Lernstoff. Seit Ende Mai 2008 nahm die Klägerin an einer Einzeltherapie im ZTR Halle-Leipzig teil, für die laut Therapievertrag Kosten in Höhe von monatlich 230,- € entstanden.

Am 3.6.2008 beantragte die Klägerin durch ihre Mutter beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Beklagten im Hinblick auf den durchgeführten Test Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie. Die Mutter der Klägerin gab an, ihre Tochter sei kontaktfreudig und habe Freunde, mit denen sie sich – auch zu Hause – treffe. Allerdings vertrage sie keine Kritik. Bislang hätten Mutter und Oma mit ihr zu Hause geübt. Die Klägerin habe jedoch Konzentrationsprobleme und verweigere sich bei den Hausaufgaben. Auch die anderen Fächer litten darunter, dass die Klägerin in Mathematik schlecht sei. Sie schlafe schlecht ein, stehe ungern auf und gehe ungern zur Schule. Auch klage sie über Bauchschmerzen, ohne dass bei der Ärztin diesbezüglich ein Befund festgestellt worden sei. Erfolgserlebnisse bereite ihr das Tanzen, ihr Hobby. Am 8.7.2008 fand eine persönliche Anhörung der Klägerin statt, bei der diese äußerte, seit Ende Mai einmal wöchentlich zur Dyskalkulie-Förderung zu gehen, welche sie gerne besuche. Frühmorgens habe sie manchmal Bauchschmerzen und Kopfschmerzen. Gehänselt werde sie nicht. Sie habe Freunde und verbringe ihre Freizeit mit Tanzen, Sport und Basteln. Die zuständige Sozialarbeiterin notierte, xxx wirke selbstbewusst und sprachgewandt; sie habe gut antworten können.

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Eine seelische Behinderung sei nicht zu erkennen. Unter dem 31.7.2008 vermerkte die Sozialarbeiterin, xxx sei in der Schule integriert; die Lehrerin sehe den Hilfebedarf nicht. xxx sei in der Schule ruhig und frage nicht, wenn sie etwas nicht verstehe. Eine bessere Verständigung zwischen Mutter und Mathematiklehrerin sollte angestrebt werden. Eingliederungshilfe sei nicht notwendig. Das Jahreszeugnis der Klasse 3 a vom 11.7.2008 bescheinigte der Klägerin guten Kontakt zu ihren Mitschülern.

Mit Bescheid der Beklagten vom 31.7.2008 wurde der Antrag auf Eingliederungshilfe abgelehnt. Zur Begründung führte die Beklagte unter näherer Darlegung im Einzelnen aus, dass bei der Klägerin eine Teilhabebeeinträchtigung am gesellschaftlichen Leben aus Sicht des Jugendamtes nicht zu erwarten sei. Die Klägerin habe im persönlichen Gespräch keine Abweichung von einem für das Lebensalter typischen Zustand gezeigt. Vorrangig sei es die Pflicht der Schule, an der Leistungsschwäche zu arbeiten und die Klägerin zu fördern.

Hiergegen ließ die Klägerin unter dem 25.8.2008 Widerspruch einlegen, den sie am 22.1.2009 begründete. Im Ergebnis der am 20.5.2008 im ZTR durchgeführten Dyskalkulietests habe sich der Verdacht einer Dyskalkulie ergeben. Ohne die systematische neue Erarbeitung der Mathematik in einem qualifizierten nachholenden Lernprozess könne die Klägerin auf Dauer weder den schulischen noch den alltagspraktischen Anforderungen im Umgang mit Mengen und Zahlen gerecht werden, weshalb ihre erfolgreiche soziale und gesellschaftliche Integration gefährdet sei. Die Klägerin nehme seit Ende Mai 2008 die empfohlene Einzeltherapie beim ZTR wahr; aufgrund der Antragstellung im Juni werde die Kostenerstattung erst ab Juni 2008 beantragt. Die Dyskalkulie habe bei der Klägerin zu einer seelischen Störung geführt, die im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheids bereits länger als sechs Monate vorgelegen habe. Die Klägerin habe seit ihrer Einschulung Probleme in Fach Mathematik und daher im Laufe der Zeit panische Schulangst entwickelt. Sie erfinde Krankheiten und Beschwerden wie Bauchschmerzen und Kopfschmerzen und breche bei schlechten Noten in Mathematik in Tränen aus. Abends schlafe sie schlecht ein und früh weigere sie sich, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Äußerungen wie ,,Ich hasse die Schule“ seien keine Seltenheit. So beginne jeder Morgen mit Stress, Hektik und Frustration. Beim Erledigen von Hausaufgaben im Fach Mathematik komme es regelmäßig zu einer Verweigerungshaltung und Wutausbrüchen, bei denen die Klägerin Gegenstände mutwillig kaputt mache und ihr Zimmer verwüste. Neben Wut- und Tränenausbrüchen sei auch Nägelkauen bei der Klägerin zu beobachten. Besonders die Wochenenden seien für die Familie eine erhebliche nervliche Belastung, da die Klägerin enorm viel Zeit brauche, um wenigstens die Hausaufgaben zu erledigen bzw. für eine anstehende Arbeit zu üben. Zeit für Freizeitaktivitäten fehle damit. Insbesondere vor anstehenden Mathematikarbeiten spitze sich die Situation zu. Die Klägerin leide unter Selbstzweifeln und habe mehrfach geäußert, zu dumm zu sein.

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Aufgrund ihrer schlechten Noten sei sie auch von Mitschülern, jedenfalls von einem Mitschüler, gehänselt worden. Nach der Schule sei die Klägerin meist niedergeschlagen oder schlecht gelaunt. Bei Fragen danach, wie es in der Schule war, raste sie regelmäßig aus. In der Schule sei die Klägerin eine ruhige Schülerin. Es sei aber nicht untypisch, dass Betroffene in der Schule und gegenüber Dritten ein unauffälliges und angepasstes Verhalten zeigten, um nicht in eine Außenseiterposition gedrängt zu werden. Frust und Selbstzweifel reagiere sie zu Hause ab, was familiäre Konfliktsituationen verursache. Eine Teilhabebeeinträchtigung sei beim Vorliegen einer Dyskalkulie nach Auffassung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts regelmäßig zu bejahen. Gerügt wurde ferner, dass die Beklagte vor Ergehen des Ablehnungsbescheids keine Begutachtung der Klägerin veranlasst habe. Der Widerspruchsbegründung war der Bericht des ZTR vom 26.5.2008 beigefügt.

Die Beklagte holte daraufhin nochmals eine sozialpädagogische Stellungnahme der fallzuständigen Sozialarbeiterin ein, die mit Schreiben vom 28.4.2009 an ihrer bisherigen Einschätzung festhielt. Beim ersten Gespräch mit der Kindesmutter, bei dem der Fragebogen ,,Gespräch mit den Eltern“ ausgefüllt worden sei, seien die Fragen zum sozialen Verhalten und zur Integrationsfähigkeit des Kindes so beantwortet worden, dass dessen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleistet sei. Damit seien die Bereiche Familie, Schule und Freizeit gemeint. Es sei deutlich geworden, dass die Klägerin in der Familie nicht unter Druck gesetzt werde, dass sie nicht übermäßig kritisiert werde und dass ihr Zeit gewidmet werde. Es sei beschrieben worden, dass sie kontaktfreudig sei und Freunde habe. Auch das Gespräch mit der Klägerin selbst habe ergeben, dass sie sowohl in der Familie, in der Schule als auch im Freizeitbereich integriert gewesen sei und am gesellschaftlichen Leben teilgenommen habe. Nach ihren Angaben werde sie in der Schule nicht gehänselt. Der Fragebogen für die Schule sei der Kindesmutter mitgegeben, aber von der Lehrerin nicht ausgefüllt worden. Die Kindesmutter habe im persönlichen Gespräch mitgeteilt, dass die Lehrerin keine Dyskalkulie und kein Integrationsproblem bei xxx sehe.

Auch die Eltern wurden nochmals dazu angehört, welche Auffälligkeiten das Kind in welchen Situationen zeige und was diesbezüglich bislang unternommen worden sei. Ihre Ausführungen vom 5.6.2009 decken sich weitestgehend mit den Darstellungen ihres Prozessbevollmächtigten in der Widerspruchsbegründung. Angemerkt wird ferner, das ständige häusliche Üben habe nichts gebracht. Seit der Förderung beim ZTR sei die Klägerin in Mathematik besser geworden. Ausweislich des vorgelegten Halbjahreszeugnisses der vierten Grundschulklasse hatte die Klägerin in Mathematik – ebenso wie im Jahreszeugnis der vierten Klasse – eine ,,vier“.

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Ferner wurde eine amtsärztliche Begutachtung der Klägerin vorgenommen. Laut der Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie xxx sowie der Dipl.-Psych. xxx vom 24.6.2009 liegt die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Klägerin im Durchschnittsbereich; massive Defizite zeigten sich hingegen im Untertest ,,Rechnerisches Denken“. Das Gutachten diagnostiziert die Teilleistungsstörung Dyskalkulie, wobei sich therapiebedingt bereits Verbesserungstendenzen zeigten, und eine Anpassungsstörung mit deutlicher emotionaler Störung infolge der Teilleistungsstörung. In Folge des Leistungsversagens hätten sich deutliche Selbstwertprobleme und mangelndes Selbstvertrauen entwickelt. Trotz bestehender guter Sozialkontakte und altersentsprechender Freizeitaktivitäten sei die emotionale Befindlichkeit der Klägerin deutlich beeinträchtigt. Diese emotionale Beeinträchtigung und psychosomatische Beschwerden hätten zu zunehmenden Problemen auch in anderen Fächern geführt; durch die eingeleitete Dyskalkulie-Therapie habe eine Stabilisierung erreicht werden können. Das Gutachten enthält ferner die Feststellung, dass die seelische Gesundheit der Klägerin über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten vom alterstypischen Zustand abweiche und dass dadurch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als beeinträchtigt einzuschätzen sei. Aus kinderpsychiatrischer und psychologischer Sicht sei eine spezifische Behandlung der Teilleistungsstörung erforderlich, um einer drohenden seelischen Behinderung adäquat entgegen zu wirken. Eine Dyskalkulie-Therapie sollte zunächst bis zum Ende der 5. Klasse fortgeführt werden.

Im Rahmen der Anamnese äußerte die Klägerin, dass sie sehr schlecht in Mathematik gewesen sei, nun aber zum Teil schon bessere Leistungen erreiche. Vor Arbeiten im Fach Mathematik habe sie immer sehr große Angst; sie habe dann wirklich Bauchschmerzen und wolle nicht in die Schule. Vor Arbeiten, aber auch vor dem Unterricht sei sie immer sehr aufgeregt und habe dann auch Kopfschmerzen. Sie sei des Öfteren in der Schule ausgelacht worden, z. B. wenn sie bei einer Mathematikarbeit eine ,,vier“ bekommen oder eine falsche Antwort gegeben habe. Sie versuche Hausaufgaben zu umgehen, werde schnell wütend, weine oder schreie rum. Vor der Therapie sei dies noch viel schlimmer gewesen. Jetzt seien die Wutanfälle weniger, auch habe sie jetzt etwas weniger Angst vor dem Unterricht. Vergleichbar äußerten sich auch die Eltern. Die amtsärztliche Persönlichkeitsdiagnostik ergab, dass die Klägerin sich freundlich, sehr aufgeschlossen und kontaktbereit zeige. Sie versuche, schulische Defizite herunterzuspielen. Bei genauerer Exploration werde jedoch ein deutlicher Leidensdruck bezüglich des Leistungsversagens sichtbar. Bei mathematischen Anforderungen wirke sie im Gegensatz zu nicht mathematischen Anforderungen angespannt, unsicher und wolle „gern gehen“. Drohende Misserfolge verunsicherten sie stark. Das Selbstbewusstsein der Klägerin sei deutlich vermindert, sie benötige individuellen Zuspruch, um sich den Mathematikaufgaben ausdauernd zu stellen. Im Ergebnis sei eine weit überdurchschnittlich hohe Ausprägung der Gefühle von Unsicherheit, Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit (emotional bedingte Leistungsstörung) festzustellen, ebenso ein weit überdurchschnittlich ausgeprägter Faktor der initialen Angst und eine sehr hohe ängstliche Erwartungshaltung, häufig begleitet von somatischen Symptomen (z. B. Übelkeit, Bauchschmerzen).

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Für xxx sei der Leistungsaspekt sehr wichtig. Die durch den schulischen Aspekt manifestierten Ängste der Klägerin beeinträchtigten sie im gesamten Alltag, nachweisbar seien z. B. Ein- und Durchschlafstörungen mit langen Grübelphasen, vielfältige Ängste, teils übermäßige Empfindsamkeit, situationsabhängige Verlegenheit. Überdies zeigten sich deutliche Hinweise, dass die Klägerin neurotisch auf Misserfolge reagiere. Nach außen hin bemühe sie sich geschickt, dahingehend nur wenige Emotionen zu zeigen, so dass die Umwelt ihre emotionale Belastung kaum wahrnehme. Der ärztliche Befund ergab eine hohe psychomotorische Unruhe der Klägerin bei deutlicher emotionaler Anspannung, Ausweichtendenzen bezüglich der Thematisierung der Leistungsproblematik, anamnestisch deutlich ausgeprägte psychosomatische Beschwerden, Ängste, Einschlafstörungen und beginnende Schulverweigerung vor Beginn der Dyskalkulie-Therapie, die aktuell eine Besserungstendenz zeigten und noch vorrangig vor Arbeiten aufträten.

Zusätzlich wurde der ASD West gebeten, als für den Fall unabhängiger Sozialdienst festzustellen, ob bei der Klägerin eine Teilhabebeeinträchtigung vorliege. Die Eltern, die Klägerin und die Schule (nunmehr Mittelschule xxx) wurden am 18.9. bzw. 29.9.2009 nochmals persönlich durch den ASD angehört. Die Nachfragen ergaben, dass xxx im Fach Mathematik im Schnitt befriedigende Leistungen erzielte (2-2-2-5-3), gegenüber guten Leistungen in Deutsch, Englisch und Biologie. Die Sozialarbeiterin kam im Bericht vom 13.10 .2009 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass eine Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin nicht zu erkennen sei und die Integrationsfähigkeit auch nicht bedroht erscheine. xxx sei im persönlichen Gespräch sehr aufgeschlossen und mitteilsam erlebt worden und werde auch von der Klassenlehrerin als sehr gesprächig, nicht gehemmt, aufgeschlossen und von Anfang an gut integriert bezeichnet. Auch bei der Mathematiklehrerin sei nicht das Gefühl entstanden, dass xxx im sozial-emotionalen Bereich beeinträchtigt sei. Das von der Schule angebotene kostenlose Konzentrationstraining und der Matheförderunterricht seien den Kindeseltern bekannt, würden aber abgelehnt, obwohl eine Schulung der Konzentration aus Sicht der Schule für die Klägerin bei der Bewältigung ihrer Arbeitsaufgaben hilfreich sein könne. Auch außerhalb der Schule scheine die Klägerin gut integriert. So nehme sie regelmäßig am Tanzunterricht teil, von dem sie stolz berichte. Es bestünden gute innerfamiliäre Kontakte; xxx selbst sei dabei aktiv.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21.10.2009 zurückgewiesen. Kinder und Jugendliche hätten nur dann Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweiche und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Dass bei der Klägerin eine seelische Störung als Folge der festgestellten Dyskalkulie vorliege, werde im Gutachten des Gesundheitsamtes festgestellt.

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Es sei davon auszugehen, dass das festgestellte Störungsbild mindestens einer ein- bis zweijährigen Therapie bedürfe, um Verbesserungen insbesondere im Fach Mathematik zu erreichen. Daher habe das Gesundheitsamt auch im Hinblick auf die Anforderungen der Mittelschule empfohlen, die Therapie weiter zu führen. Eine festgestellte seelische Störung stelle aber noch keine seelische Behinderung dar und vermittle noch nicht den Anspruch auf § 35 a SGB VIII. Aufgrund der Zweigliedrigkeit des § 35 a Abs. 1 SGB VIII sei vielmehr durch die sozialpädagogischen Fachkräfte festzustellen, ob infolge der seelischen Störung auch eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt sei. Hiervon sei auch nach der Einschätzung des mit dem Fall sonst nicht befassten ASD Sozialbezirk West nicht auszugehen. Im Schulalter sei fachbezogene oder auch grundsätzliche Angst vor mündlichen oder schriftlichen Arbeiten nicht untypisch für Schulkinder, während eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die zu einer totalen Schul- und/oder Lernverweigerung und zu einem Rückzug aus sozialen Kontakten sowie einer Vereinzelung in der Schule führe, das Merkmal der seelischen Behinderung erfüllen könne. Im Ergebnis der Analyse der Familiensituation und der Situation des Kindes in der Schule und der außerschulischen Aktivitäten sei die fallzuständige Sozialarbeiterin bei der Prüfung im Widerspruchsverfahren zu dem Ergebnis gekommen, dass keine Teilhabebeeinträchtigung des Kindes vorliege. Auch die Schule habe keinen besonderen Bedarf des Kindes signalisiert, der Maßnahmen der Eingliederungshilfe zur Folge gehabt hätte. Die am 13.10.2009 erstellte sozialpädagogische Stellungnahme des fallunabhängigen ASD Sozialbezirk West komme nach dem Gespräch mit der Schule, den Eltern und der Klägerin selbst resümierend zum gleichen Ergebnis. Der von den Eltern und vom Gesundheitsamt beschriebene Leistungsdruck vor allem bezüglich des Fachs Mathematik werde in der Schule so spezifisch nicht wahrgenommen. Probleme scheine die Klägerin im Bereich der Konzentration zu haben.
Das von der Schule angebotene Konzentrationstraining im Rahmen der Ganztagsbetreuung und der Mathematikförderunterricht seien den Eltern der Klägerin bekannt, würden aber abgelehnt. Auch außerhalb der Schule sei xxx gut integriert. Sie nehme regelmäßig am Tanzunterricht, ihrem Hobby, teil und berichte stolz darüber. Es bestünden gute innerfamiliäre Kontakte. Nach alledem sei keine Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin als Folge der Dyskalkulie festgestellt. xxx Integrationsfähigkeit im Lebensbereich Schule sowie in sonstigen Teilbereichen des Lebens sei weder beeinträchtigt noch bedroht. Damit bestehe kein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII.

Die Klägerin hat am 17.11.2009 Klage erhoben. Zur Begründung macht sie geltend, der Ablehnungsbescheid vom 31.7.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2009 sei rechtswidrig und verletzte sie in ihren Rechten, da die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII zum Zeitpunkt der Antragstellung sämtlich vorgelegen hätten.

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Die Klägerin habe vor Therapiebeginn und im Zeitpunkt der Antragstellung unstreitig seit mehr als sechs Monaten an Dyskalkulie gelitten. Dies erfülle bereits für sich genommen die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII. Dyskalkulie sei gemäß der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) der WHO eine psychische Störung und damit auch eine seelische Störung im Sinne von § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII. Insbesondere sei der ICD 10 eine Differenzierung zwischen ,,geistiger“ und ,,seelischer“ Störung fremd. Hierzu lässt die Klägerin im Einzelnen näher ausführen. Es sei daher nicht erforderlich, dass zu der Dyskalkulie andere seelische Folgebeeinträchtigungen hinzuträten. Eine Abweichung der seelischen Gesundheit der Klägerin vom alterstypischen Zustand ergebe sich jedenfalls aus der ebenfalls diagnostizierten Anpassungsstörung mit deutlicher emotionaler Störung infolge der Teilleistungsstörung, an der die Klägerin ebenfalls seit weit mehr als sechs Monaten gelitten habe. Nach der fachärztlichen Feststellung sei die seelische Gesundheit der Klägerin über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten von der gesunder Gleichaltriger abgewichen. Falls man trotz alledem das Vorliegen einer seelischen Behinderung verneine, sei die Klägerin jedenfalls von einer seelischen Behinderung bedroht, was nach § 35 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII als Anspruchsvoraussetzung ausreiche. Insbesondere die diagnostizierten, deutlich ausgeprägten psychosomatischen Beschwerden, Ängste, Einschlafstörungen, deutlichen Selbstwertprobleme, mangelndes Selbstvertrauen und die beginnende Schulverweigerung vor Beginn der Dyskalkulie-Therapie seien sämtlich deutliche Anzeichen für eine drohende seelische Behinderung.

Auch die Voraussetzung einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung sei erfüllt. Bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift sei keine ,,schwere Beeinträchtigung“ oder gar eine ,,Verhinderung“ der Teilhabe erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 6.11.1998 – 5 C 38/97 -) sei für das Vorliegen einer seelischen Behinderung entscheidend, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv seien, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigten. Danach sei es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn ein Tatsachengericht bei bloßen Schulängsten, die andere Kinder teilten, eine seelische Behinderung verneine und die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule als behinderungsrelevante seelische Störung ansehe. Die Frage, an welcher Schwelle eine relevante Beeinträchtigung beginne, habe das Bundesverwaltungsgericht nicht erörtert. Aus der Entscheidung könne jedenfalls nicht abgeleitet werden, dass Beeinträchtigungen der genannten Art vorliegen müssten, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu bejahen. Ausgehend von der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO sei Teilhabe das Einbezogensein in eine Lebenssituation; Beeinträchtigung der Teilhabe seien Probleme, die ein Mensch beim Einbezogensein in eine Situation erlebe.

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Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liege somit bereits vor, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirke. Soweit die Beklagte die in der ICF (insbesondere in Kapitel 1, d150, d172und d175) genannten Komponenten im Rahmen der Beurteilung unberücksichtigt lasse und sich stattdessen mit floskelartigen Ausführungen begnüge, halte
dies einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Feststellung der (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung durch das Jugendamt unterliege der vollen gerichtlichen Kontrolle. Außerdem habe das Gericht existente Stellungnahmen eines Facharztes, die auch Aussagen
zur (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung enthielten, im Hinblick auf § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.

Zudem könne die Teilhabebeeinträchtigung nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt bedingt werden, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen (Verweis auf VG Leipzig, Urt. v. 16.6.2005- 2 K 954/03 -). Für die Annahme einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung genüge es daher, dass die Klägerin den alltagspraktischen Anforderungen im Umgang mit Mengen und Zahlen ohne die Therapie nicht gewachsen gewesen wäre. Sie habe keine Restgeldbeträge errechnen und deshalb nicht selbstständig einkaufen gehen können. Bereits dadurch sei sie von altersgerechten Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen gewesen. Zudem sei ihr das Ablesen der Uhr nicht gelungen, was ebenfalls dafür spreche, dass ihr ohne die Therapie eine aktive und selbstbestimmte Teilnahme am sozialen Geschehen nicht möglich gewesen wäre. Die aktuelle Mathematiknote erlaube keine Rückschlüsse auf eine drohende Teilhabebeeinträchtigung im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Antragstellung im Mai/Juni 2008, insbesondere da die Verbesserung der mathematischen Leistungen auf die in Anspruch genommene Dyskalkulie-Therapie zurückzuführen sei.

Bei Dyskalkulie-Erkrankungen sei nach allgemeiner fachlicher Erkenntnis eine Teilhabebeeinträchtigung in der Regel zu bejahen (Verweis auf SächsOVG, Beschl. v. 11.8.2005 – 5 BS 192/05 -). Eine Teilhabebeeinträchtigung drohe umso eher, je ausgeprägter die Teilleistungsschwäche sei, ferner umso eher dann, wenn zusätzlich zu der bestehenden Teilleistungsschwäche weitere Probleme hinzukämen. Bei der Klägerin sei eine gravierende Dyskalkulie festgestellt worden, infolge derer sie bereits eine Anpassungsstörung entwickelt habe. Infolge einer Teilleistungsstörung entwickelte sekundäre seelische Probleme führten, wenn sie das Maß der nachhaltigen Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit im Sinne des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erreicht hätten, regelmäßig zu einer Teilhabebeeinträchtigung. Versagensängste, fehlendes Selbstwertgefühl, Anpassungsstörungen mit Zukunftsängsten führten häufig zu einer Gefährdung der sozialen Entwicklung (Verweis auf SächsOVG, Beschl. v. 20.8.2009 – 1 B 432/09 -). Hierfür spreche auch die Definition der Anpassungsstörung gemäß der ICD l0 als emotionale Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindere.

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Nach einer Definition in der Literatur sei die Teilhabe eines Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft dann beeinträchtigt oder bedroht, wenn ihm die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie denen nach Anerkennung, Wertschätzung, Kompetenzerfahrung, Selbstverwirklichung und sozialer Eingebundenheit oder der Zugang zu zentralen Lebensbereichen wie Schule, Arbeitsplatz oder Gleichaltrigengruppe nicht in ausreichendem Maße möglich sei. Auch dies treffe auf die Klägerin zu. Schließlich ergebe sich die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin ausdrücklich aus dem amtsärztlichen Gutachten. Dessen fachmedizinische Feststellungen habe die Beklagte bei der Beurteilung einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung außer Acht gelassen. Dies sei rechtswidrig, da die Jugendhilfebehörde aus eigenem Sachverstand heraus nicht in der Lage sei, die vom Facharzt aufgestellten Diagnosen und Feststellungen zu widerlegen oder außer Acht zu lassen. Die Beklagte verkenne auch, dass sich die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung nicht nur auf den
familiären und schulischen Bereich beziehe und dass sie nicht bereits eingetreten sein müsse, sondern dass es nach dem Wortlaut genüge, dass sie nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.

Soweit die Beklagte sich darauf berufe, die Klägerin sei im persönlichen Gespräch selbstbewusst und sprachgewandt aufgetreten, sei weder gehänselt worden noch habe es aufgrund der schlechten Leistungen eine gestörte Familiensituation oder eine Verweigerungshaltung gegenüber Anforderungen in der Schule oder zu Hause gegeben, sei dies falsch. Nach eigenen Angaben der Klägerin sei diese des Öfteren von Mitschülern gehänselt worden. Zudem sei es nach eigenen Angaben der Klägerin aufgrund der schlechten Leistungen und der daraus resultierenden enormen emotionalen Belastung zu Wut- und Tränenausbrüchen gekommen. Nach Angaben der Eltern sei es ferner zur mutwilligen Zerstörung von Gegenständen sowie zur Verwüstung des Zimmers der Klägerin gekommen. Die Klägerin selbst habe weiter geäußert, sie habe wegen Angst in Mathematik nicht in die Schule gehen wollen. Nach Angaben der Eltern habe die Klägerin wiederholt geäußert, die
Schule zu hassen, und immer wieder Krankheiten erfunden, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Dass dies eine gestörte Familiensituation und eine Verweigerungshaltung darstelle, bedürfe wohl keiner näheren Erläuterung.

Soweit sich die Beklagte darauf stütze, dass die Klägerin als gesprächig, nicht gehemmt, aufgeschlossen und von Anfang an gut in die Schulklasse integriert beschrieben werde, stehe dies einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung nach den oben dargelegten Definitionen nicht entgegen. Auch das amtsärztliche Gutachten enthalte derartige Feststellungen. Dennoch seien die Fachärzte zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Teilhabebeeinträchtigung zumindest drohte.

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Außerdem verkenne die Beklagte, dass die Klägerin im Herunterspielen ihrer Defizite sowie in einer Anpassung in der Schule geübt sei. Bereits das Gutachten vom 24.6.2009 erwähne Ausweichtendenzen bezüglich der Thematisierung der Leistungsproblematik und stelle fest, dass sich die beschriebenen emotionalen Auffälligkeiten und psychosomatischen Beschwerden ungeachtet altersgemäßer sozialer Kontakte und Freizeitaktivitäten zeigten. Die Klägerin versuche laut den Ausführungen des Gutachtens allgemein, schulische Defizite herunterzuspielen, und bemühe sich nach außen hin geschickt, dahingehend nur wenig Emotionen zu zeigen, so dass die Umwelt ihre emotionale Belastung kaum wahrnehme; bei genauerer Exploration sei jedoch ein deutlicher Leidensdruck bezüglich des Leistungsversagens sichtbar geworden. Überdies sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen, dass der Klägerin ohne die Therapie eine berufliche Integration nicht altersentsprechend möglich gewesen wäre. Bei der Dyskalkulie gehe es nämlich um ein Versagen in einem heute unverzichtbaren Kernfach, der Mathematik. Ohne solide mathematische Kenntnisse werde eine Eingliederung in das Arbeitsleben in der Regel erheblich behindert.

Schließlich stehe der begehrten Dyskalkulie-Therapie beim ZTR Halle-Leipzig auch nicht entgegen, dass die Klägerin zuvor dort begutachtet worden sei. Denn die Feststellung einer drohenden seelischen Behinderung und der Notwendigkeit einer Dyskalkulie-Therapie beruhe nicht allein auf diesem Gutachten, sondern auch auf dem amtsärztlichen Gutachten. Auch die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB VIII gegenüber dem vorrangigen Auftrag der Schule, erforderlichenfalls auch durch besondere individuelle Fördermaßnahmen Hilfe zu leisten, stehe dem klägerischen Anspruch nicht entgegen. Die Grenze der Verantwortlichkeit sei dort zu ziehen, wo der betroffene Schüler – wie die Klägerin – von einer seelischen Behinderung bedroht sei. In diesem Fall lasse sich die Teilleistungsschwäche regelmäßig nicht mehr allein mit Mitteln schulischer Förderung behandeln (Verweis auf SächsOVG, Beschl. v. 11.8.2005 – 5 BS 192/05 -).Auch könne die Leistungspflicht der Jugendhilfe nur dann verdrängt werden, wenn tatsächlich ein angemessenes Angebot der Schule vorhanden sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen, da die Dyskalkulie und ein Förderbedarf der Klägerin seitens der Schule verneint worden seien. Das angebotene Konzentrationstraining habe die Klägerin abgelehnt, weil sie an einem solchen in der Vergangenheit bereits erfolglos teilgenommen habe. Zur Therapie der Dyskalkulie sei ein Konzentrationstraining nicht geeignet. Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch betreffe den Zeitraum nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.7.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2009 zu verpflichten, die Kosten der Dyskalkulie-Therapie der Klägerin im ZTR Leipzig für die Zeit vom 1.8.2008 bis 30.11.2010 i. H. v. 230,- € monatlich zu übernehmen und nach Maßgabe des § 44 SGB I zu verzinsen, sowie festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren notwendig war.

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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Widerspruchsbescheid vom 21.10.2009 und trägt ergänzend vor, Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten bzw. Teilleistungsstörungen seien für sich gesehen keine seelische Störung, könnten aber eine solche auslösen. Die Feststellung einer Störung nach § 35 a SGB VIII erfolge durch Gutachter auf der Grundlage der ICD 10. Alsdann sei zu prüfen, ob die festgestellte Funktionsbeeinträchtigung Auswirkungen auf die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft habe. Die Teilhabebeeinträchtigung werde durch eine sozialpädagogische Fachkraft festgestellt. Sie umfasse die Prüfung der Teilhabe an Bildung und an der Gestaltung der Beziehungen des Kindes in seinem sozialen Umfeld, z. B. Familie, Schule, Freizeit. Eine Teilhabebeeinträchtigung liege nur vor, wenn es sich nicht um geringfügige Beeinträchtigungen handele. Bloße Schulprobleme, wie sie auch andere Kinder haben könnten, reichten nicht aus; erst eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die zum Rückzug aus jedem sozialen Kontakt in der Schule führe, sei eine Teilhabebeeinträchtigung und somit eine seelische Behinderung.

Anhand der genannten Verfahrensvorgaben sei der Einzelfall nochmals überprüft worden. In Vorbereitung der ersten Entscheidung vom 31.7.2008 sei entgegen der gesetzlichen Vorgaben kein Gutachten nach § 35 a Abs. 1 a SGB VIII eingeholt worden. Dieser Verfahrensfehler sei im Widerspruchsverfahren geheilt und ein Gutachten des Gesundheitsamtes auf der Grundlage der ICD 10 erstellt worden. Die im Gutachten genannten Bewertungen und Empfehlungen betreffend die Anpassungsstörung mit deutlicher emotionaler Störung infolge der Teilleistungsstörung Dyskalkulie seien nicht strittig, sie seien Grundlage für die Prüfung der seelischen Behinderung durch das Jugendamt gewesen.

Nach der ICF werde die Teilhabe mit dem Einbezogensein des Menschen u. a. in sein soziales Umfeld beurteilt. Es sei deshalb zu prüfen gewesen, ob die festgestellte Funktionsstörung Auswirkungen auf xxx Teilhabe am Leben in der Gesellschaft habe. Die mit dem Einzelfall befasste Sozialarbeiterin im ASD Südwest habe nochmals geprüft, ob die von den Eltern benannten psychosozialen Auffälligkeiten als Teilhabebeeinträchtigung im Sinne § 35 a SGB VIII zu beurteilen seien oder ob eine entsprechende Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Dies sei durch die Stellungnahme vom 28.4.2009 nicht bestätigt worden. In Anlehnung an die Strukturen des Allgemeinen Sozialen Dienstes sei auch der Sozialbezirk Leipzig West gebeten worden, die Teilhabebeeinträchtigung des Kindes unter den nun veränderten Bedingungen (Besuch der Mittelschule) auf der Grundlage des Gutachtens des Gesundheitsamtes nochmals zu prüfen.

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Dessen Zusammenfassung und sozialpädagogische Auswertung sei Grundlage für die Entscheidung im Widerspruchsverfahren gewesen und sei ausweislich einer Gesprächsnotiz über ein Gespräch mit der Schule aktuell auch nicht anders zu bewerten. Bei der Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung sei von den Eindrücken und Darstellungen der Schule, der Eltern und des Kindes selbst ausgegangen worden. Die Darstellungen der Eltern stünden nach wie vor im Gegensatz zu den Feststellungen der Sozialpädagogen und der Pädagogen der Schule. Xxx habe nach deren Einschätzung den Wechsel in die Mittelschule gut gemeistert. Sie bewältigte ihren Alltag und habe an Bildung und an sozialen Beziehungen teil. Sie sei ein gesprächiges und aufgeschlossenes Kind, das von Anfang an gut in das soziale Umfeld integriert sei. Dies mache auch eine aktuelle Nachfrage in der Schule hinsichtlich ihrer Entwicklung deutlich. Xxx erreiche danach durchschnittliche Leistungen. Sie habe ihren Platz in der Schule und bei der Gestaltung ihrer Freizeit (Tanzen) gefunden.

Gemäß Schulgesetz für den Freistaat Sachsen habe die Schule die individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen bei der Gestaltung des Unterrichts zu beachten. Gemäß § 35 a Schulgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16.7.2004 sei insbesondere Teilleistungsschwächen Rechnung zu tragen. Zur Förderung eines Schülers könnten zwischen Eltern und Schule Bildungsvereinbarungen abgeschlossen werden. Sollten die von den Eltern beklagten Probleme wie emotionale Auffälligkeiten und psychosomatische Auffälligkeiten insbesondere an den Wochenenden weiterhin auftreten, bestehe neben der unentgeltlichen Förderung der Konzentration und dem Förderunterricht der Dyskalkulie durch die Schule auch die Möglichkeit, pädagogische und psychologische Beratung durch die Schule in Anspruch zu nehmen. Da diese Probleme im Umfeld der Schule nicht aufträten,
habe die Schule allerdings von sich aus keine Veranlassung, diesbezüglich an die Eltern heranzutreten. Bei der Klägerin liege keine Teilhabebeeinträchtigung als Folge der seelischen Störung vor noch sei eine solche infolge ihrer Dyskalkulie zu erwarten. Die diagnostizierte Anpassungsstörung infolge der Teilleistungsstörung werde im Kontext des sozialen Umfelds als gestörte Balance nicht sichtbar, so dass eine Hilfe zur Lebensbewältigung über das Leistungssystem Jugendhilfe nach § 35 a SGB VIII nicht sicherzustellen sei. Da eine seelische Behinderung nach § 35 a SGB VIII nicht vorliege, werde die Übernahme der Kosten für die Förderung durch das ZTR von Seiten der Beklagten abgelehnt.

Die Kammer hat Beweis erhoben zu den Lebensverhältnissen der Klägerin und ihrer Familie im Zusammenhang mit der Rechenschwäche durch Einvernahme der Mutter der Klägerin, Frau xxx als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der hierüber gefertigten Niederschrift verwiesen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

I. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 31.7.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der für die Zeit vom 1.8.2008 bis zum 30.11.2010 entstandenen Kosten für die beim ZTR durchgeführte Dyskalkulie-Therapie (§ 113 Abs. 5 VwGO).

1. Maßgeblich für die gerichtliche Überprüfung ist hier die Sach- und Rechtslage im gesamten Regelungszeitraum, weil die Beklagte die Kostenübernahme über den Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung hinaus für einen in die Zukunft hineinreichenden Zeitraum abgelehnt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.8.1995 – 5 C 9/94 -, NJW 1996, 2588; BayVGH, Beschl. v. 9.11.2010 – 12 ZB 09.1251-, juris).

2. Rechtsgrundlage für die beanspruchte Eingliederungshilfe ist § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (i. d. F. v. 14.12.2006, BGBl. I 3134). Nach dieser Vorschrift haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1.ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des SGB VIII sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Der Begriff der seelischen Behinderung, die Voraussetzung für eine Eingliederungshilfegewährung ist, ist somit zweigliedrig. Zunächst ist Voraussetzung für eine seelische Behinderung eine seelische Störung. Diese allein begründet aber noch keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Hinzukommen muss als kausale Folge der seelischen Störung eine eingetretene oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Teilhabe des Betroffenen am Leben in der Gesellschaft (Fischer in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl., § 35 a Rdnr. 5).

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Bei der Klägerin ist nach diesen Grundsätzen von einer drohenden Behinderung auszugehen.

a. Als seelische Störungen, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich beeinträchtigen und damit nach der Terminologie des § 35 a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine – seelische – Behinderung darstellen können, kommen unter anderem Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in Betracht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 – 5 C 38/97 -, juris; Vondung in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 35 a Rn. 6a ff.). Das bloße Vorliegen der – hier unstreitigen – Teilleistungsstörung Dyskalkulie erfüllt hingegen entgegen der Ansicht der Klägerin die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII noch nicht. Dyskalkulie ist eine geistige Leistungsstörung. Es handelt sich um abgegrenzte Ausfälle von Hirnleistungen, die aus dem Rahmen der Gesamtintelligenz und der übrigen Leistungen herausfallen. In Kapitel V, Ziffer F81.2 der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der deutschen Fassung von 2009 (www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icdl0/) wird Dyskalkulie als eine Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten in Form der ,,Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine un-
angemessene Beschulung erklärbar ist, [beschrieben]. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ (SächsOVG, Beschl. v. 9.6.2009 – 1 B 288/09 -, juris).

Ein Abweichen der seelischen Gesundheit i. S. v. § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII der Klägerin von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand verlangt zusätzlich zu dieser geistigen Teilleistungsstörung die Feststellung hierin begründeter Sekundärfolgen im seelischen Bereich (SächsOVG, Beschl. v. 29.1.2010 – 1 A 143/09 -, juris; Beschl. v. 9.6.2009, a. a. O.; vgl. für die Legasthenie ebenso OVG Münster, Beschl. v. 28.2.2007 – 12 A 1472/05 -, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 26.3.2007 – 7 E 10212/07 -, NJW 2007, 1993; BVerwG, Beschl. v. 5.7.1995 – 5 B 119.94 -, juris). Kinder mit Rechenstörungen sind zwar in erhöhtem Maße anfällig für die Entwicklung ängstlicher und depressiver Störungen sowie von Aufmerksamkeits- und Aktivitätsproblemen. Dyskalkulie kann wegen der Notwendigkeit, ständig gravierende Misserfolge zu verarbeiten, insbesondere bei ungünstigen familiären oder äußeren Bedingungen zu seelischen Störungen und wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen im Sinne einer seelischen Behinderung führen. Da seelische Behinderungen bei Kindern mit Teilleistungsschwächen jedoch nicht regelmäßig eintreten, muss im konkreten Einzelfall festgestellt werden, ob Begleitsymptome zu beobachten sind, welche die Prognose einer drohenden seelischen Behinderung rechtfertigen (Harnach, in: Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Stand: Januar 2010, § 35 a, Rn. 38 f). Somit besteht bei einer diagnostizierten Dyskalkulie zwar regelmäßig ein Therapiebedarf, jedoch wird Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII nur dann gewährt, wenn die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist.

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Dass bei der Klägerin auf der Grundlage der festgestellten Dyskalkulie bis zum Beginn der Therapie Ende Mai 2008 bereits eine seelische Störung eingetreten war, ist indes durch das Gutachten des Gesundheitsamtes vom 24.6.2009 (Bl. 85 ff. der Verwaltungsakte) nachvollziehbar belegt. Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst diagnostizierte eine Anpassungsstörung mit deutlicher emotionaler Störung infolge der Teilleistungsstörung. Als Folge des Leistungsversagens haben sich danach deutliche Selbstwertprobleme und mangelndes Selbstvertrauen entwickelt. Die emotionale Befindlichkeit der Klägerin war trotz bestehender guter Sozialkontakte und altersentsprechender Freizeitaktivitäten deutlich beeinträchtigt. Im Ergebnis stellten die Gutachter eine weit überdurchschnittlich hohe Ausprägung der Gefühle von Unsicherheit, Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit (emotional bedingte Leistungsstörung) sowie einen weit überdurchschnittlich ausgeprägten Faktor der initialen Angst und eine sehr hohe ängstliche Erwartungshaltung, häufig begleitet von somatischen Symptomen (z. B. Übelkeit, Bauchschmerzen), fest. Außerdem zeigten sich deutliche Hinweise, dass die Klägerin neurotisch auf Misserfolge reagiere.

Gemäß diesen Feststellungen lag bereits bei Therapiebeginn eine seelische Störung vor. Das Amtsärztliche Gutachten wurde zwar erst am 24.6.2009, mithin über ein Jahr nach Einleitung der Dyskalkulie-Therapie, erstellt. Allerdings haben sowohl die Klägerin selbst gegenüber der Gutachterin als auch die als Zeugin vernommene Mutter der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung übereinstimmend geäußert, dass die beschriebenen Symptome vor Beginn der Dyskalkulie-Therapie noch stärker ausgeprägt waren und dass es insbesondere im Frühjahr 2008 zu einer Zuspitzung der Situation gekommen war. Auch das Amtsärztliche Gutachten konstatiert, dass durch die eingeleitete Dyskalkulie-Therapie eine Stabilisierung erreicht worden sei und dass sich aktuell Besserungstendenzen zeigten. Die Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter der Klägerin typischen Zustand bestand mithin auch offensichtlich länger als sechs Monate, was das Amtsärztliche Gutachten ebenfalls bescheinigt.

b. Der Klägerin drohte im Zeitpunkt der Antragstellung angesichts der festgestellten seelischen Störung darüber hinaus auch die konkrete Gefahr und die hohe Wahrscheinlichkeit einer darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung.

Von einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist auszugehen, wenn die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt (BVerwG, Urt. v. 26.11.1998, a. a. O.). Eine Beeinträchtigung der Teilhabe i. S. d. § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII liegt bei jedem partiellen oder vollständigen Ausschluss von altersgemäßen Handlungsmöglichkeiten und Kontakten in allen Bereichen des Lebens (altersgemäß vor allem Schule, Freundeskreis/Freizeit und Familie) vor (Harnach, a. a. O., Vorb. § 35 a, Rn. 20).

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Ihre Wesentlichkeit hängt vom Ausmaß und Grad der die Teilhabe einschränkenden Störung ab. Im Schulalter sind Schulängste im allgemein üblichen Rahmen z. B. vor Prüfungssituationen noch nicht als wesentliche Beeinträchtigung anzusehen, wohl aber angstbedingte psychosomatische Störungen, eine generalisierte Schul- oder Lernverweigerung oder Rückzugs- und Vereinzelungstendenzen (BVerwG, Urt. v. 26.11.1998, a. a. O.; VGH Mannheim, Urt. v. 4.11.1997 – 9 S 1462/96 -, juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 1.4.2003 – 9 K 1632/01-, juris). Die Einschränkungen der Eingliederungsfähigkeit brauchen noch nicht eingetreten zu sein oder unmittelbar bevorzustehen, sie müssen jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Dafür müssen konkrete Anhaltspunkte zu erkennen sein, die auf eine aufkommende Störung hinweisen (vgl. Harnach, a. a. O., § 35 a, Rn. 39). Infolge von Teilleistungsstörungen entwickelte sekundäre seelische Probleme führen, wenn sie denn das Maß der nachhaltigen Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit i. S. v. § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII erreicht haben, regelmäßig in der Folge auch zu einer Teilhabebeeinträchtigung i. S. v. § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII (SächsOVG, Beschl. v. 29.1.2010, a. a. O.; Beschl. v. 9.6.2009, a. a. O.; OVG Münster, Beschl. v. 28.2.2007, a. a. O.). Auch im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die im Amtsärztlichen Gutachten diagnostizierte Anpassungsstörung mit deutlicher emotionaler Störung ohne die Einleitung einer Therapie aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Gefährdung der Klägerin in ihrer sozialen Entwicklung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft geführt hätte.

1) Dies folgt zwar nicht bereits aus den diesbezüglichen Feststellungen im Amtsärztlichen Gutachten vom 24.6.2009. Dort heißt es zwar u. a., die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei als beeinträchtigt einzuschätzen und aus kinderpsychiatrischer und -psychologischer Sicht sei eine spezifische Behandlung der Teilleistungsstörung erforderlich, um einer drohenden seelischen Behinderung adäquat entgegen zu wirken. Indes kommt der amtsärztlichen, also medizinischen Stellungnahme nicht die Kompetenz zu, die Frage einer Teilhabebeeinträchtigung zu bewerten. Die Feststellung der kausalen Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist – anders als die Abweichung der seelischen Gesundheit vielmehr vom Jugendamt aus eigener Sachkunde zu treffen. Sie obliegt ausschließlich den pädagogischen Fachkräften, wenn auch auf Basis des Gutachtens nach § 35 a Abs. 1 a SGB VIII. Die Feststellung der Integrationsfähigkeit erfordert daher ein fachliches Zusammenwirken von ärztlichen und sozialpädagogischen Fachkräften unter Leitung des Jugendamtes. Die Bestimmung des Behindertenbegriffs verbleibt damit letztlich im Verantwortungsbereich des Jugendamtes. Allerdings unterliegt der unbestimmte Rechtsbegriff der seelischen Behinderung der vollen gerichtlichen Kontrolle (SächsOVG, Beschl. v. 9.6.2009, a. a. O Vondung, a. a. O., § 35 a Rn. 7; Fischer, a. a. O., § 35 a Rn. 13).

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2) Jedoch ist die Regelvermutung, dass nachhaltige sekundäre seelische Probleme i. S. v. § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII infolge von Teilleistungsstörungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen, auch eine zumindest drohende Teilhabebeeinträchtigung i. S. v. § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII nach sich ziehen, hier nicht für alle Lebensbereiche widerlegt. Die Teilhabebeeinträchtigung muss sich aber nicht auf alle Bereiche erstrecken (VG München, Urt. v. 18.10.2010 – M 18 K 10.1037 -, juris), es genügt, wenn eine (drohende) Beeinträchtigung der Teilhabe in einem für das Kind bedeutsamen Lebensbereich verbleibt.

Der Beklagten ist zuzugestehen, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Grenzfall handelt. So hat die Beklagte zutreffend das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung in den Bereichen Schule und Freundeskreis/Freizeit verneint. Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt aber eine (drohende) Beeinträchtigung der Teilhabe im familiären Bereich vor.

Wenn die Kindesmutter bei Antragstellung am 3.6.2008 wie auch im Rahmen der Zeugenvernehmung geschildert hat, dass die Klägerin vor Tagen mit Mathematikunterricht und insbesondere vor jeder Mathematikarbeit schlecht einschlief, ungern aufstand und ungern zur Schule ging, über Bauchschmerzen klagte und äußerte, die Schule zu ,“hassen“, sind dies zwar psychische Auffälligkeiten. Jedoch ist nicht jede Beeinträchtigung aufgrund einer Teilleistungsschwäche bereits als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu definieren. Die hier geschilderten Probleme stellen sich noch als Schulunlust oder auch Schulängste dar, die die Klägerin mit anderen Kindern teilt. Eine besondere Anspannung insbesondere vor Leistungskontrollen oder Prüfungen, die sich in Unruhe, Unwohlsein oder Nervosität äußert, ist in allen Altersstufen weit verbreitet und erreicht vorliegend nicht die Intensität nach Breite, Tiefe und Dauer, dass damit die Teilhabe am Leben im schulischen Bereich beeinträchtigt ist. Eine Schulphobie oder eine totale Lernverweigerung lassen sich nicht feststellen. Soweit die Eltern der Klägerin bei ihrer schriftlichen Anhörung am 5.6.2009 geäußert haben, die Klägerin habe im Laufe der Zeit panische Schulangst entwickelt und weigere sich, früh aufzustehen und in die Schule zu gehen, erscheint diese Darstellung über-
trieben. Sämtliche dem Gericht vorliegenden Zeugnisse der Klassen 3 bis 5 weisen keine unentschuldigten Fehlzeiten aus. Die Mutter der Klägerin hat bei ihrer Zeugenvernehmung eingeräumt, dass die Klägerin auf Anhalten der Mutter – wenn auch ,,mehr oder weniger gezwungen“ – regelmäßig in die Schule gegangen ist. Die Klägerin war auch zu keiner Zeit versetzungsgefährdet, ihre Zeugnisnoten in Mathematik waren nie schlechter als ,,vier“. Im Halbjahreszeugnis der fünften Klasse der Mittelschule erreichte sie – nach eineinhalbjähriger Dyskalkulie-Therapie – gar eine ,,drei“.

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Auch im Zusammenspiel mit den Konzentrationsproblemen und der fehlenden Kritikfähigkeit, die die Kindesmutter ebenfalls beschreibt, erreichten die oben genannten Schulprobleme damit noch kein solches Ausmaß, dass sie die Teilhabe der Klägerin an der Gesellschaft im schulischen Bereich beeinträchtigten.

Von einer Ausgrenzung oder sozialen Isolation oder einem inneren Rückzug der Klägerin kann in diesen Bereichen erst recht nicht ausgegangen werden. Sowohl nach den Darstellungen ihrer Mutter gegenüber dem ASD bei der Antragstellung am 3.6.2008 und gegenüber dem Gericht bei der Einvernahme als Zeugin als auch nach ihren eigenen Äußerungen am 8.7.2008 bei ihrer persönlichen Anhörung vor dem ASD hat die Klägerin gute soziale Kontakte. Die Klägerin, die in allen Schilderungen als kontaktfreudig beschrieben wird, verfügte über Freunde bzw. Freundinnen, mit denen sie sich – auch zu Hause – traf. Übernachtungsbesuche kamen ebenfalls vor. Das Jahreszeugnis der Klasse 3 a vom 11.7.2008 bescheinigt der Klägerin guten Kontakt zu ihren Mitschülern. Auch in der Mittelschule hat sie sich nach Angaben der Schule (Bl. 104 der Verwaltungsakte) schnell und gut in den neuen Klassenverband integriert. Was die zwischen den Beteiligten streitigen Hänseleien durch Mitschüler aufgrund der Rechenschwäche der Klägerin betrifft, so ist nach einem Abgleich der Angaben der Klägerin vor dem ASD einerseits und dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst andererseits mit den Ausführungen des Klägervertreters im Widerspruchsverfahren und den Angaben der Zeugin davon auszugehen, dass sich die behaupteten Probleme der Klägerin innerhalb der Schulklasse im Wesentlichen auf einen Mitschüler beschränkten, der sie des Öfteren ausgelacht hat. Es ist aber nichts Ungewöhnliches, dass in einer Klasse mit ca. 25 bis 30 Schülern das Verhältnis nicht zu allen Mitschülern gleich gut ist und sich das Auskommen mit Einzelnen mitunter auch schwierig gestaltet. Die Mutter der Klägerin hat bei ihrer Einvernahme als Zeugin bekräftigt, dass xxx keine Außenseiterin in der Klasse war.

Die Klägerin und auch ihre Mutter bekunden, dass die Klägerin in ihrer Freizeit ihren Hobbys, allen voran das Tanzen, nachging. Sie hatte seit dem fünften Lebensjahr und während des gesamten hier streitigen Zeitraums zweimal die Woche Ballettunterricht in einer Ballettklasse, in die sie ebenfalls gut integriert war. Indes ist davon auszugehen, dass die Teilhabe der Klägerin im familiären Umfeld wegen ihrer Rechenschwäche beeinträchtigt zu werden drohte. Die Beklagte hat die familiäre Situation nicht hinreichend berücksichtigt. Die Familie stellt insbesondere für ein Kind einen wichtigen Bereich des gesellschaftlichen Lebens dar.

Zwar hat die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass die Klägerin sowohl von ihren Eltern als auch von der Großmutter und der älteren Schwester in schulischen Angelegenheiten Unterstützung erfuhr.

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Sie wurde danach beim häuslichen Üben weder bestraft noch unter Druck gesetzt, wenn etwas nicht funktionierte. Die Zeugin hat allerdings auch anschaulich geschildert, dass es bis zum Beginn der Dyskalkulie-Therapie oft Streitpunkte infolge der Mathematikschwäche gegeben habe. So sei es „jeden Früh ein Kampf“ gewesen, die Klägerin dazu zu bewegen, zur Schule zu gehen. Bei der Anfertigung der Mathematikhausaufgaben sei sie schnell ausgerastet, sei dann in ihr Zimmer gestürmt, habe Gegenstände (etwa Buntstifte) durch die Gegend geschmissen und diese auch zerbrochen, habe geweint und sei gar nicht ansprechbar gewesen. Diese Stimmung habe sich manchmal über den ganzen Tag oder über das Wochenende hingezogen. Es habe auch verbale Auseinandersetzungen gegeben. In anderen Fächern sei es zwar auch mal vorgekommen, dass sie in ihr Zimmer gestürmt sei, jedoch habe sie sich dann schnell wieder beruhigt.

Dass eine Rechenschwäche innerhalb der Familie atmosphärisch ein Problem darstellt, liegt zwar in der Natur der Sache. Auch sind Schwierigkeiten von Kindern bei einzelnen Schulfächern oder generelle Unlust zur Erledigung der Hausaufgabe ein häufig anzutreffendes Phänomen. Im vorliegenden Fall gehen die familiären Probleme allerdings über die der Teilleistungsstörung quasi immanenten Schwierigkeiten hinaus. Die Mutter der Klägerin hat bei ihrer Zeugenvernehmung nachvollziehbar und glaubhaft dargelegt, dass sich die Erledigung der Hausaufgaben bzw. das Üben für Mathematikarbeiten auf die beschriebene Weise sehr lange und häufig über das gesamte Wochenende hingezogen hat. Sie hat geschildert, dass dieser Umstand in Verbindung mit der Frustration und den Stimmungstiefs der Klägerin dazu geführt hat, dass häufig keine Zeit mehr für größere Unternehmungen verblieb, wie etwa in ein Erlebnisbad oder in den Zoo zu gehen. Um überhaupt etwas zusammen als Familie unternehmen zu können, fuhren Eltern und Kinder zum Kaffeetrinken zur Großmutter. Dass es sich hierbei um ein von den Mathematikproblemen der Klägerin unbelastetes Zusammensein gehandelt hat, darf angesichts der Angaben, dass auch die Oma mit der Klägerin Mathematik geübt hat, in Zweifel gezogen werden. Der Zwang, an den Wochenenden den in der Woche (in Ermangelung professioneller Hilfe) nicht bewältigten Schulstoff nachholen bzw. für die nächste anstehende Arbeit üben zu müssen, führte demnach dazu, dass eine normale Wochenendgestaltung mit gelegentlichen familiären Unternehmungen, die Ausgleichs-, Erholungs- und Entspannungsmöglichkeiten bietet, nicht mehr möglich war. Dies wirkte sich insbesondere vor dem Hintergrund belastend für die Familiensituation aus, dass der Vater der Klägerin auf Montage arbeitete und nur am Wochenende zu Hause war; das Wochenende war mithin der einzige Zeitraum, in dem Familienleben mit der ganzen Kernfamilie stattfinden konnte.

Die Schilderungen der Mutter wirken nicht übertrieben. Die Mutter der Klägerin hat als Zeugin einen glaubwürdigen Eindruck gemacht, ihre Aussagen waren nicht tendenziös. So hat sie beispielsweise unumwunden eingeräumt, dass ihre Tochter in der Schule keine Außenseiterposition innehatte, Freunde hatte und über ihr Hobby Erfolgserlebnisse verbuchen konnte.

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Die Schilderungen decken sich auch mit früheren Darstellungen der Eltern, etwa in der schriftlichen Anhörung vom 5.6.2009, in der die Eltern aus.