VG Weimar 10.01.2013

Abschrift

5 K m1388/11 We

VERWALTUNGSGERICHT WEIMAR

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des Kindes xxx

-Kläger-

Prozessbevollm.: xxx

gegen

die Stadt xxx vertreten durch den Oberbürgermeister, xxx

-Beklagte-

wegen

Kinder- und Jugendhilferechts

hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Weimar durch die Richterin am Verwaltungsgericht xxx als Einzelrichterin aufgrund der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 2013 für Recht erkannt:

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Kosten der ambulanten Lerntherapie im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) Erfurt zu erstatten, die dieser ab dem 17.08.2010 bis zum 10.11.2011 aufgewendet hat.

2. Der Bescheid der Beklagten vom 09.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Thüringer Landesverwaltungsamts vom 10.11.2011 wird aufgehoben.

3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

4. Die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

5. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines Betrages in Höhe der aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ersichtlichen Kostenschuld abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten einer ambulanten Dyskalkulietherapie. Dem liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Der am 14.03.1997 geborene Kläger wurde im August 2004 nach vorheriger Rückstellung in die Grundschule xxx eingeschult. Im Verlauf des ersten Schuljahres wechselte er auf eine Sprachheilschule und wiederholte dort die 1. Klasse. Seit dem 29.10.2007 besuchte der Kläger nach erneutem Schulwechsel zunächst die Staatliche Grundschule xxx in Erfurt. Seit August 2009 besucht er den Regelschulteil der xxx in Erfurt und absolviert derzeit die Klassenstufe 8. Im Fach Mathematik belegt der Kläger entsprechend der Schullaufbahnempfehlung vom 28.06.2011 den Hauptschulkurs, in den übrigen Fächern Realschulkurse.

Auf entsprechenden Antrag seiner Eltern vom 30.10.2007 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 16.01.2008 in der Zeit vom 01.02.2008 bis 31.07.2008 für die Dauer eines Schulhalbjahres Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII im Institut für Psychomotorik in Erfurt. Mit Änderungsbescheid vom 05.03.2008 gewährte die Beklagte dem Kläger auf dessen Widerspruch Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form einer Dyskalkulietherapie in der therapeutischen Einrichtung in Erfurt (PTE). Auf weiteren Antrag der Eltern vom 24.06.2008 wurde das Hilfeplanverfahren fortgeschrieben und die Hilfeleistung im PTE Erfurt befristet bis zum 31.07.2009 weiter gewährt.

Mit Bescheid vom 10.08.2009 lehnte die Beklagte einen erneuten Antrag auf Weitergewährung der Hilfeleistung ab.

Vom zuständigen Versorgungsamt wurde mit Bescheid vom 11.11.2009 gern. § 69 SGB IX festgestellt, dass der Kläger wegen Intelligenzminderung mit Aufmerksamkeits- und Rechenstörung behindert ist. Der festgestellte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 50. Dem Kläger wurde ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt.

Am 17.08.2010 beantragten die Eltern des Klägers bei der Beklagten erneut Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII für ihren Sohn. Hierzu legten sie einen fachärztlichen Befundbericht des Arztes für Nervenheilkunde Dr. xxx vom 24.06.2010 vor, in dem eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F 81.3) insbesondere eine Rechenstörung (F 81.2) verbunden mit einer Intelligenz im unteren Normbereich, festgestellt worden war. Der Gutachter empfahl eine integrative Beschulung mit Erstellung eines individuellen Förderplans, da trotz intensiver medizinisch-therapeutischer und pädagogischer Bemühungen die Lernschwäche weiterhin bestehe. Sollten diese Maßnahmen nicht erfolgen, drohe die Entwicklung einer seelischen Behinderung, sodass Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form einer Hilfe für eine angemessene Schulbildung erforderlich sei. Gleichzeitig legte die Mutter des Klägers einen Bericht des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) Erfurt vom 09.08.2010 vor, in dem erneut eine zensurenauffällige Entwicklungsdyskalkulie (Rechenschwäche) festgestellt wurde. Beim Kläger sei eine gravierende „Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten“ (WHO, ICD-10, F 81.2) festzustellen. Aufgrund der fehlenden vorausgesetzten Kenntnisse könne der Kläger den aktuellen Lernangeboten der Schule nicht folgen. Seine mathematischen Lernprobleme seien deshalb keine Frage des mangelnden Fleißes oder irgendeiner Art mangelnder Begabung oder Motivation, sondern lediglich einer bestehenden mathematischen Unkenntnis. Der Kläger besuche zwar aktuell die Klasse 6 einer Gesamtschule. Sein mathematisches Verständnis sei aber auf dem Niveau der 1. Klasse. Nur durch eine aufgearbeitete mathematische Therapie werde der Kläger künftig in der Lage sein, dem aktuellen Schulstoff im Fach Mathematik und weiterführend in den Fächern Physik und Chemie zu folgen. In einem ebenfalls von den Eltern vorgelegten Gutachten des sozialpädiatrischen Zentrums der Klinik Erfurt vom 26.05.2010 geht hervor, dass der Kläger an einer Dyskalkulie sowie an einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung leide und seine intellektuelle Leistungsfähigkeit im unteren Altersnormbereich einzuordnen sei. Vor dem Hintergrund der umfassenden Hilfsangebote und der zahlreichen therapeutischen und pädagogischen Fördermaßnahmen sei bei der knapp normwertigen Leistungsfähigkeit des Klägers und sehr guter sozialer Kompetenz und Ausdrucksfähigkeit vor der Entwicklung einer erlernten Hilflosigkeit zu warnen. Die umfassende Förderung des Klägers solle aber primär das Ziel haben, ihm einen regulären Schulabschluss und damit in der Folge einen Ausbildungsweg zu ermöglichen. Aus dem weiterhin vorgelegten Zeugnis der xxx Erfurt geht hervor, dass der Kläger im Schuljahr 2009/10 im Fach Mathematik die Note ausreichend erreicht hatte. In den Fächern Geografie, Geschichte, Mensch, Natur und Technik erreichte er ebenfalls die Note ausreichend.

In einem am 26.08.2010 im Jugendamt der Beklagten erfolgten Gespräch mit dem Kläger teilte dieser mit, in der Schule gefalle es ihm nicht. Er habe Mathe nicht verstanden und fühle sich wie ein Junge in der 1. Klasse. Andere Kinder seiner Klasse lästerten über ihn, darüber sei er sehr traurig. Auch habe er keine Freunde in der Klasse. Daher schließe er sich Freunden seines Bruders auf dem Schulhof an. Im Übrigen habe er selten Freizeit, da er ständig mit Hausaufgaben beschäftigt sei.

Die Beratungslehrerin des Klägers erklärte in einem am 16.09.2010 erfolgten Gespräch in der Schule, sie habe aufgrund der verstärkten Mathematikprobleme des Klägers erneut die Einbeziehung des MSD im Schulamt beantragt. Dies sei jedoch abgelehnt worden, da lediglich eine Teilleistungsschwäche vorliege und kein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden sei. Zwar sei ein Förderplan erstellt worden. In Tests und Klassenarbeiten werde auch das Aufgabenvolumen des Klägers reduziert, damit dieser sich einzelne Aufgabenstellungen aussuchen könne. In diesem Rahmen erklärte der Vater des Klägers, sein Sohn weigere sich derzeit, noch einmal zu einem Psychologen zu gehen. Auch wolle er keine Medikamente mehr einnehmen und habe die Tabletten abgesetzt.

Mit Bescheid vom 09.12.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35 SGB VIII ab. Zur Begründung wurde vorgetragen, nach Prüfung der aktuellen Situation sei festzustellen, dass neben dem Vorliegen einer diagnostizierten drohenden seelischen Behinderung keine gewichtigen Anhaltspunkte für eine Teilhabebeeinträchtigung vorlägen, welche eine Gewährung von Jugendhilfe notwendig machten.

Hiergegen erhoben die Eltern des Klägers am 06.01.2011 Widerspruch. Zu dessen Begründung trugen sie vor, ihr Sohn sei zwischenzeitlich nicht mehr bereit, sich weiteren Untersuchungen und Tests zu unterziehen. Ihm sei immer wieder deutlich gemacht worden, dass er nichts könne und von ihm auch nichts zu erwarten sei. Er fühle sich daher nicht ernst genommen. In seiner Klasse sei er Sticheleien und Hänseleien ausgesetzt. Inzwischen habe er selbst unentschuldigte Fehlstunden. In die Schule gehe er nur widerwillig und habe Angst. Er benötige dringend eine Therapie von Seiten des Jugendamtes, damit er nicht völlig isoliert und desinteressiert seinen schulischen Weg weiter beschreiten müsse. Aufgrund seiner Wissenslücken im Fach Mathematik benötige er mindestens eine 90minütige Therapie pro Woche. Im Übrigen habe das staatliche Schulamt in der Vergangenheit immer wieder Anforderungen an ein neues sonderpädagogisches Gutachten abgelehnt. Insoweit sei es nunmehr beschämend, dass neuerdings dieser Weg beschritten werden solle, um ihren Sohn auf das Niveau eines Förderschülers herabzusetzen, damit die Beklagte keine Eingliederungshilfe gewähren müsse.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2011 wies das Thüringer Landesverwaltungsamt den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Zur Begründung wurde vorgetragen, der Kläger leide unstreitig an einer Teilleistungsstörung in Form einer Dyskalkulie. Allerdings liege eine Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft nicht vor. Entscheidend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII sei nämlich, dass die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sei, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtige oder diese Beeinträchtigung erwarten lasse. Auf der Grundlage der zur Prüfung eingereichten Unterlagen sei hingegen nicht erkennbar, dass der Kläger aufgrund seiner Dyskalkulie vom Leben in der Gesellschaft und insbesondere auch nicht von den für sein Lebensalter typischen Lebensumständen ausgegrenzt sei. Weder aus den vorliegenden Gutachten noch anhand der verschiedenen Stellungnahmen von Fachärzten und Schule sei erkennbar, dass aufgrund der Dyskalkulie des Klägers ein adäquater Schulabschluss gefährdet sei. Insbesondere dem letzten Zeugnis seien hierzu keine Aussagen zu entnehmen. Die Einschätzung seiner neuen Klassenlehrerin vom 15.09.2011 stelle lediglich pauschal darauf ab, dass bei Ausbleiben der Förderung ein Schulabschluss gefährdet sei. Welche konkrete Förderung für den Kläger jedoch die richtige und effiziente sei und welcher Schulabschluss gefährdet sei, werde hingegen nicht konkretisiert. In einem ergänzenden Telefonat am 09.11.2011 sei auf die konkrete Nachfrage, ob der von den Eltern angestrebte Realschulabschluss erreichbar sei, keine Prognose abgegeben worden. Vielmehr gehe der Lehrkörper derzeit davon aus, dass dem Kläger noch alle Möglichkeiten offen stünden. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass eine wesentliche Verbesserung der Leistungen im Fach Mathematik trotz der bisherigen langjährigen und speziellen Förderungen (unter anderem durch eine eigenfinanzierte Dyskalkulietherapie vor Antragstellung) nicht erkennbar sei. Das Leben des Klägers sei altersbedingt überwiegend durch den Schulbesuch und die sich hierdurch ergebenden Ereignisse geprägt. In seiner neuen Klasse sei er trotz seines Alters integriert, er habe dort einen Freund gefunden und werde akzeptiert. Auch in seiner häuslichen Umgebung habe er nach eigenen Angaben Freunde, könne mit diesen allerdings wegen fehlender Zeit nicht viel gemeinsam unternehmen. Nach Aussagen seiner Lehrerin besuche er die Schule regelmäßig. Er sei ehrgeizig und aktiv darum bemüht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um einen guten Schulabschluss zu erreichen. Auf Eigeninitiative habe er zum Schuljahr 2010/2011 einen Klassenwechsel bewirkt und könne nun zusammen mit seinem jüngeren Bruder und dessen Freunden lernen. Insoweit drohe im schulischen Alltag, trotz der von ihm benannten Unstimmigkeiten mit Klassenkameraden, in unmittelbarer Zukunft keine Ausgrenzung. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass die Eltern des Klägers im Schuljahr 2009/2010 verschiedene Maßnahmen zur Umsetzung des Bildungsauftrags seitens der Schule, speziell eine integrative Förderung im Fach Mathematik, nicht akzeptiert hätten. Vielmehr hätten sie eine erneute Diagnostik zur Prüfung eines Anspruchs auf eine sonderpädagogische Förderung durch die Schule abgelehnt. Auch die in der Schule angebotenen Nachhilfestunden in Mathematik seien abgelehnt worden. Den Eltern des Klägers sei von Seiten der Schule und des Jugendamtes erläutert worden, dass eine integrative Beschulung des Klägers mit zusätzlichen Fördermöglichkeiten nur erfolgen könne, wenn ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert werde. Nur aufgrund einer vorliegenden Teilleistungsstörung sei ein sonderpädagogischer Förderbedarf nicht gerechtfertigt und es könnten insbesondere keine zusätzlichen Förderstunden in der Schule ermöglicht werden. Die hierzu notwendige Einschätzung und Prüfung durch den MSD seien von den Eltern ausdrücklich abgelehnt worden. Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII sei zudem gemäß § 10 SGB VIII gegenüber den Angeboten der Schule nachrangig. Entgegen der Einschätzung des Prozessbevollmächtigten des Klägers in seinem Schreiben vom 25.05.2011 sei auch das bloße Vorliegen eines Schwerbehindertenausweises nicht bereits als Beweis für das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung zu werten. Grundlage für die Einschätzung der zuständigen Fachbehörde seien ausschließlich medizinische Grundsätze gewesen. Eine weitergehende Prüfung hinsichtlich der Auswirkungen dieser Diagnose auf das tägliche Leben sei nicht erfolgt.

Am 13.12.2011 hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten bei dem Verwaltungsgericht Weimar die vorliegende Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Über das im Widerspruchsverfahren bereits Gesagte hinaus trägt er vor, der Kläger habe nach wie vor ein sehr geringes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Auch seine Ängste bestünden weiterhin. Er habe in seiner Klasse keine Freunde, werde gehänselt und gemobbt. Im Gespräch mit dem Jugendamt der Beklagten am 26.08.2010 habe der Kläger geäußert, dass es ihm in der Schule nicht gefalle, dass er sich nichts traue, dass er Mathe nicht verstehe und wie ein Junge der 1. Klasse da stehe. Auch die Fächer Chemie und Physik könne er nicht, weil auch hierfür Mathe erforderlich sei. Weiterhin habe er mitgeteilt, dass andere Kinder seiner Klasse hinter seinem Rücken lästerten, dass er dies höre und darüber sehr traurig sei. Er habe keine Freunde in seiner Klasse, sondern schließe sich den Freunden seines Bruders an. Als dem Kläger schließlich vor der versammelten Klasse von einem Mitschüler die Hose heruntergezogen worden sei, sei dieser nach Hause gelaufen und verweigere den Schulbesuch. Aufgrund dieses Ereignisses sei der Kläger in eine Parallelklasse versetzt worden. Hierzu habe der Schulleiter eine Stellungnahme abgegeben, auf die ergänzend Bezug genommen werde. Unstreitig weiche die seelische Gesundheit des Klägers weit länger als sechs Monate vom alterstypischen Zustand ab, § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII (seelische Störung). Infolge dieser seelischen Störung sei die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft auch beeinträchtigt bzw. eine solche Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten (§ 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers ergebe sich zunächst aus der Tatsache, dass bereits neben dem Vorliegen einer Behinderung ein Grad der Behinderung von 50 verbindlich festgestellt worden sei. Diese Feststellungen seien für andere Behörden bindend. Der Kläger gelte aufgrund des festgestellten Grads der Behinderung von 50 als schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Bei dem GdB handle es sich gerade um eine Maßeinheit für den Grad der Teilhabebeeinträchtigung aufgrund einer bzw. mehrerer gesundheitlicher Störungen. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX würden nämlich „die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt“. Eine Behinderung sei sowohl nach dem SGB IX als auch nach dem SGB VIII 2-stufig (Störung plus Teilhabebeeinträchtigung) festzustellen. Die Teilhabe eines Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft sei dann beeinträchtigt oder bedroht, wenn ihm die Befriedigung von Grundbedürfnissen (wie z.B. nach Anerkennung, Wertschätzung, Kompetenzerfahrung, Autonomie, Selbstverwirklichung und soziale Eingebundenheit), die Ausführung üblicher Handlungen oder der Zugang zu zentralen Lebensbereichen wie Schule, Arbeitsplatz oder Gleichaltrigengruppe nicht in ausreichendem Maße möglich sei. Hierbei genüge es für die Annahme einer bestehenden Teilhabebeeinträchtigung, dass der Kläger in der Schule gehänselt und gemobbt worden sei und er sich selbst wegen seiner Mathedefizite in einer Sonderrolle sehe. Aber auch die zahlreichen Ängste, das geringe Selbstbewusstsein und schließlich seine Schulverweigerung zeigten mehr als deutlich, dass von einer aktiven, selbst bestimmten und gleichberechtigten Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft keine Rede sein könne. Schließlich ergebe sich das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung aber auch aus den Stellungnahmen des ZTR Erfurt vom 09.08.2010 und 15.03.2011, woraus plausibel hervorgehe, dass der Kläger ohne Dyskalkulietherapie nicht in der Lage sein werde, den aktuellen Schulstoff in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie zu verstehen und er deshalb weit unter seinen Bildungsmöglichkeiten bleiben werde. Hinsichtlich der Nachrangigkeit der Eingliederungshilfe gemäß § 10 SGB VIII sei darauf hinzuweisen, dass auf eine schulische Förderung nur dann verwiesen werden könne, wenn Förderungen in der Schule tatsächlich angeboten würden und diese in der Schule angebotene Hilfe geeignet sei, die Störung zu bearbeiten bzw. zu beheben. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zum einen verfüge die Schule nach eigenen Angaben schon nicht über entsprechend geschultes Personal. Zum anderen sei die schulische Förderung nach Angaben der Schule auch nicht ausreichend gewesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 09.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesverwaltungsamts vom 10.11.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kosten der Dyskalkulietherapie des Klägers im ZTR Erfurt ab dem 17.08.2010 bis zum 10.11.2011 zu übernehmen.

Der Kläger beantragt ferner, die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt ihre Ausführungen aus den angefochtenen Bescheiden.

Die Kammer hat die Sache mit Beschluss vom 10.07.2012 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens, auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 10.01.2013 sowie auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakte der Beklagten (zwei Heftungen), die dem Gericht vorlag und Gegenstand des Verfahrens ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg; sie ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 09.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Thüringer Landesverwaltungsamts vom 10.11.2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), denn dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen für die ambulante Dykalkulietherapie im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) in Erfurt ab dem 17.08.2010 bis zum 10.11.2011 zu. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in Fällen, in denen um die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gestritten wird, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier der Widerspruchsbescheid des Thüringer Landesverwaltungsamts vom 10.11.2011 (vgl. BVerwG, Urt. vom 08.06.1995 – 5 C 30.93 -, FEVS Bd. 46 S. 94; juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Hilfeanspruch bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur dieser Zeitraum ist, gilt nur dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zahlungszeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.06.1995 – 5 C 30.93 -, NVwZ- RR 1996, 510 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, weil der angefochtene Bescheid keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass die Beklagte die Hilfegewährung für einen längeren in die Zukunft reichenden Zeitraum abgelehnt hat. Sie konnte als Jugendhilfeträgerin vielmehr nur eine Entscheidung nach Maßgabe der im Zeitpunkt ihrer Entscheidung bekannten leistungsrelevanten Umstände treffen. Ändern sich diese tatsächlichen Verhältnisse nachträglich, muss sie über die Leistungsgewährung neu entscheiden.

Der Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII ist – ebenso wie die übrigen Leistungen der Jugendhilfe – grundsätzlich auf die Deckung eines gegenwärtigen Hilfebedarfs durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe gerichtet. Darum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht (mehr), weil der entsprechende Zeitraum bereits in der Vergangenheit liegt und der Kläger sich die für erforderlich gehaltene Leistung – Dyskalkulietherapie – ohne Mitwirkung und Zustimmung des Jugendhilfeträgers bereits von Dritten selbst beschafft hat und lediglich die Erstattung der hierfür aufgewendeten Kosten begehrt. Nach § 36 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe nach § 35 a SGB VIII aber grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Für eine bereits anderweitig durchgeführte Maßnahme hat der Jugendhilfeträger allerdings dann die Kosten zu übernehmen, wenn der Hilfesuchende zur Durchsetzung eines bestehenden Jugendhilfeanspruches auf die Selbstbeschaffung angewiesen war, weil der öffentliche Jugendhilfeträger sie nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt, das für die Leistungsgewährung vorgesehene System also „versagt“ hat.

Nach § 36 a Abs. 3 SGB VIII ist daher in den Fällen, in denen Hilfen abweichend von § 36 a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen verpflichtet, wenn

1. Der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat,

2. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und

3. Die Deckung des Bedarfs

a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder

b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.

Wegen der Dringlichkeit des Bedarfs muss es dem jeweiligen Hilfesuchenden also nicht zuzumuten gewesen sein, die Bedarfsdeckung aufzuschieben. So liegen die Dinge hier.

Die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe lagen auch im Zeitpunkt der wiederholten Antragstellung am 17.08.2010 noch vor (§ 36 a Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII). Der (sekundäre) Anspruch auf Erstattung der Kosten ist nämlich in derselben Weise vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des Hilfetatbestandes abhängig wie die primäre Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Hilfegewährung.

Der Eingliederungshilfeanspruch des Klägers gemäß § 35a SGB VIII scheitert entgegen der Auffassung der Beklagten nicht schon an der Regelung des § 10 Abs. 1 SGB VIII.

Nach dieser Vorschrift werden Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch das SGB VIII nicht berührt (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen sind (§ 10 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Diesen Bestimmungen ist nach einhelliger Auffassung zu entnehmen, dass Jugendhilfeleistungen subsidiär sind und dass insbesondere auch die Verpflichtung der Schule, etwa bei Teilleistungsstörungen besondere Fördermaßnahmen zu ergreifen, gegenüber der Jugendhilfe vorrangig ist (vgl. Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 10 Rdnr. 23; Vondung in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 10 Rdnr. 12; Schellhorn in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl. 2007, § 10 Rdnr. 6, 19). In diesem Zusammenhang ist zwar die Fachliche Empfehlung des Thüringer Kultusministeriums zu Fördermaßnahmen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Lernschwierigkeiten in den allgemeinbildenden Schulen (außer Förderschule) in Thüringen vom 20.08.2008 zu beachten. Danach sind für Kinder mit besonderen Lernschwierigkeiten spezifische Unterstützungsprogramme wie Individualförderung und Intensivkurse möglich.

Auf eine gegenüber der Jugendhilfe vorrangige Leistungsverpflichtung eines anderen Trägers oder der Schule darf ein Hilfesuchender nach ebenfalls einhelliger Auffassung allerdings nur dann verwiesen werden, wenn dieser vorrangige Anspruch auch rechtzeitig verwirklicht werden kann. Es dürfen deshalb nur solche vorrangigen Alternativleistungen in Betracht gezogen werden, die tatsächlich zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen; es muss sich um sogenannte präsente Mittel handeln. Kann die staatliche Schule den konkreten Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen hingegen nur unzureichend erfüllen, so ist der Träger der Jugendhilfe nicht berechtigt, die Hilfe unter Hinweis auf den Nachranggrundsatz abzulehnen (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 19. August 2008 – 10 UZ 1479/07 – sowie vom 13. März 2001 – 1 TZ 2872/00 -, NVwZ-RR 2002, 126; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2006 – 12 A 806/03 -; Beschluss vom 30. Januar 2004 – 12 B 2392/03 -, FEVS 55, 469; Wiesner, a.a.O., § 10 Rdnr. 25; Vondung, a.a.O.; Fischer in: Schellhorn/Fischer/Mann, a.a.O., § 35a Rdnr.30).

Ein solcher Sachverhalt ist hier gegeben. Aus den diversen Stellungsnahmen der Beratungslehrerin des Klägers ergibt sich, dass ein Förderplan zur pädagogischen Förderung bezüglich der sichtbaren Probleme in Mathematik für das Schuljahr 2009/10 zwar erstellt wurde, eine Einzelförderung aber nicht erfolgen konnte, da diesbezüglich kein ausgebildetes Fachpersonal zur Verfügung stand. Auch für das Jahr 2011 konnte von Seiten der Schule Förderunterricht in Ermangelung von entsprechend ausgebildeten Fachkräften nur sporadisch und schließlich gar nicht mehr durchgeführt werden. Ausweislich eines undatierten Ergebnisprotokolls einer Fallkonferenz im Jugendamt der Beklagten (Bl. 47 d. BA) wurde von Seiten der Mathematiklehrerin zudem festgestellt, dass die Arbeit mit dem Förderplan nicht ausreiche, um xxx zu helfen, seine Wissens- und Verständnislücken im Bereich der natürlichen Zahlen zu schließen. Bestätigt wird dies nicht zuletzt durch den Zwischenbericht des ZTR Erfurt vom 09.08.2010. Darin heißt es, dass sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt auf dem Leistungsstand eines Erstklässlers befand und ein Anschluss an den Lernstoff in der Schule zwingend eine Lerntherapie erfordert. Da die Schule die erforderliche Hilfe aber nicht im notwendigen Umfang anbot und leistete und diese Hilfe auch nicht kurzfristig präsent gemacht werden konnte, war es dem Kläger auch nicht zuzumuten, gegen die Schulverwaltung etwa im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorzugehen.

Bei dem Kläger liegen auch die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vor.

Kinder oder Jugendliche haben nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII liegt nicht schon deshalb vor, weil bei dem Kläger ausweislich der Psychologischen Befunde der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – Sozialpädiatrisches Zentrum – der Helios Klinik Erfurt vom 26.05.2010 und 27.05.2010 sowie des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie xxx vom 24.06.2010 eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F 81. 3), insbesondere eine Dyskalkulie (ICD-10: F 81.2) mit Intelligenz im unteren Normbereich diagnostiziert wurden. Bei der Teilleistungsschwäche Dyskalkulie ist eine Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand der seelischen Gesundheit vielmehr nur zu bejahen, wenn es als Sekundärfolge zu einer seelischen Störung kommt, so dass deshalb die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. März 2007 – 7 E 10212/07 -, FEVS 58, 477, 478; OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 28. Februar 2007 – 12 A 1472/05 -; Hess. VGH, Urteil vom 8. September 2005 – 10 UE 1647/04 -, JAmt 2006, 37; Vondung, a.a.O., § 35a Rdnr. 7).

Auch bei Vorliegen einer solchen sekundären seelischen Störung kann ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII zudem nur dann bestehen, wenn „daher“, also infolge der sekundären seelischen Störung die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Deshalb genügt nicht das Bestehen einer jeden sekundären seelischen Störung, sondern es kommt für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt. Dies ist beispielsweise bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, bei einer totalen Schul- und Lernverweigerung, bei einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei einer Vereinzelung in der Schule anzunehmen, nicht aber schon bei bloßen Schulproblemen und Schulängsten, die andere Kinder oder Jugendliche teilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2000 – 5 C 29.99 -, BVerwGE 112, 98, 105; Urteil vom 26. November 1998 – 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487, 488 f.).

Gemessen hieran lag im entscheidungsrelevanten Zeitraum eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft aufgrund einer seelischen Störung vor. Dies wurde von der Beklagten in der Vergangenheit ebenso bewertet. Daran hat sich nach Ansicht des Gerichts aufgrund der vorliegenden Gutachten auch nichts geändert. Der Kläger war sowohl im schulischen als auch im privaten Bereich nach wie vor isoliert. Eine Integration in den Klassenverband fand nicht statt. Aufgrund von Anpassungsschwierigkeiten kam es immer wieder zu Konflikten mit anderen Schülern seiner Klasse; er wurde ausgegrenzt und hatte nur wenig Kontakt zu seinen Mitschülern. Nach der vorliegenden Einschätzung des Schulleiters der xxx in Erfurt befand sich der Kläger aufgrund seiner ausgeprägten Rechenschwäche immer wieder in einer Sonderrolle. Nach einer erneuten Eskalation zu Beginn des 2. Halbjahres 2009/10 habe sich der Kläger gänzlich geweigert, in die Schule zu gehen. Da keinerlei Anhalt dafür gegeben ist, dass diese seelische Störung nicht in Zusammenhang mit der diagnostizierten Dyskalkulie des Klägers stand, geht das Gericht davon aus, dass die festgestellte seelische Störung Sekundärfolge der Dyskalkulie war. Der Kläger ist aufgrund seiner Intelligenzminderung mit Aufmerksamkeits- und Rechenstörung im Übrigen 50 % schwerbehindert, so dass vom Vorliegen der Voraussetzungen einer seelischen Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX per se auszugehen ist. Im Rahmen des SGB IX hat der Gesetzgeber nämlich den Behinderungsbegriff neu gefasst und für alle Reha-Leistungen der verschiedenen RehaTräger verbindlich geregelt. Anders als § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII verweist § 35 a SGB VIII nicht explizit auf § 2 SGB IX, sondern wiederholt die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dort für die Behinderung definierten Voraussetzungen.

Der nach allem gegebene Eingliederungshilfeanspruch des Klägers gegen die Beklagte ist auf die Übernahme der Kosten gerichtet, die ihm infolge der Durchführung der Lerntherapie gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII im ZTR Erfurt ab dem 17.08.2010 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2011 entstanden sind.

Dem steht – wie bereits ausgeführt – nicht entgegen, dass sich der Kläger diese Leistung selbst beschafft hat, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Kosten der Hilfe aber grundsätzlich nur dann trägt, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe eines Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Vorliegend sind nämlich die Voraussetzungen des § 36 a Abs. 3 Nr. 3 b SGB VII erfüllt. Es war dem Kläger nicht zuzumuten, die Lerntherapie für den Zeitraum des Rechtsmittels – des Widerspruchsverfahrens – zu unterbrechen, da die Beklagte die beantragte Leistung zu Unrecht abgelehnt und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub duldete.

Die von den Eltern des Klägers eingeleitete ambulante Therapie erscheint ferner auch als die einzige, zur Abdeckung des bestehenden Eingliederungshilfebedarfs geeignete Maßnahme. Da die seelische Störung des Klägers auf seine Dyskalkulie zurückzuführen war, musste die Hilfe für den Kläger auch an diesem Punkt ansetzen. Auch wenn die Therapie allein nicht ausreichen mochte, um die Eingliederung des Klägers in die Gesellschaft zu sichern, war sie doch erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen. Hinsichtlich der Höhe der Kosten für die einzelne Therapiestunde hat das Gericht keine durchgreifenden Bedenken; solche sind auch seitens des Beklagten nicht erhoben worden.

Der Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge stattzugeben. Nach § 188 Satz 2 VwGO werden Gerichtskosten nicht erhoben. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist vorliegend wie in der Regel zu bejahen, da ohne rechtskundigen Rat der Bürger nur in Ausnahmefällen materiell- und verfahrensrechtlich in der Lage ist, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 162 Rn. 18 m.w.N.). Umstände, die es ausnahmsweise rechtfertigten, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nicht für notwendig zu erklären, sind hier nicht ersichtlich. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Thüringer Oberverwaltungsgericht zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beantragt werden. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht Weimar zu stellen. Der Zulassungsantrag ist innerhalb zweier Monate nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründung ist – wenn sie nicht bereits mit dem Zulassungsantrag erfolgt – beim Thüringer Oberverwaltungsgericht, Kaufstraße 2 – 4, 99423 Weimar einzureichen.

Hinweis: Für das Berufungsverfahren besteht Vertretungszwang nach Maßgabe des § 67 Abs. 2 und 4 VwGO; dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung.