OVG Sachsen 30.11.07

Sächsisches Oberverwaltungsgericht
(…) Urteil

(…)

wegen Eingliederungshilfe

hat der 5. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts … ohne mündliche Verhandlung am 30. November 2007 für Recht erkannt:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 16. Juni 2005 … wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig, mit dem er unter Aufhebung eines entgegenstehenden Bescheids verpflichtet wurde, die Kosten der Fortführung einer Dyskalkulietherapie zu übernehmen.

Die am 17.8.1987 geborene Klägerin besuchte die Mittelschule, die sie nach freiwilliger Wiederholung der 9. Klasse mit dem Hauptschulabschluss im Jahre 2004 verließ. Von Beginn der schulischen Ausbildung an traten Probleme im Fach Mathematik auf.

Am 6.11.2001 beantragten die Eltern der Klägerin für diese Eingliederungshilfe. Diesen Antrag lehnte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 14.12.2001 ab. Auf den Widerspruch der Eltern der Klägerin und der Vorlage einer eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung diagnostizierenden psychologischen Stellungnahme der Diplomheilpädagogin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin gewährte der Beklagte mit Abhilfebescheid vom 5.2.2002 eine Behandlung von zunächst 50 Therapieeinheiten im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) Leipzig.

Am 9.1.2003 beantragten die Eltern der Klägerin die Kostenübernahme zur Fortsetzung der Dyskalkulietherapie über die gewährten 40 Therapiestunden hinaus. Dem Antrag waren ein Zwischenbericht des ZTR sowie Stellungnahmen der Klassenleiterin und der Mathematiklehrerin der Mittelschule Jesewitz beigefügt. Hierin wurde der Klägerin ein Therapieerfolg bescheinigt, allerdings auch die Fortführung der Dyskalkulietherapie für notwendig gehalten.

Mit Bescheid vom 7.2.2003 lehnte die Beklagte die Gewährung weiterer Eingliederungshilfe zur Dyskalkulietherapie ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass zwar noch mathematische Defizite bestünden, eine positive Persönlichkeitsentwicklung jedoch festzustellen sei.

Die Klägerin führte die Dyskalkulietherapie zunächst auf eigene Kosten weiter. Am 13.3.2003 erhoben die Eltern der Klägerin Widerspruch, den sie im Wesentlichen wie folgt begründeten: Bei der Klägerin bestünden weiterhin Ängste und kompensierende Verhaltensstörungen, die nun auch zu einem allgemeinen Leistungsabfall geführt hätten. Sie benötige noch mindestens zwei Jahre Dyskalkulietherapie bis zum Abschluss der 10. Klasse, da sonst ihr Schulabschluss und ihre gesellschaftliche Integration gefährdet seien.

Mit Widerspruchbescheid vom 19.5.2003 wies der Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, bei der Klägerin bestehe keine Dyskalkulie, sondern eine allgemeine Leistungsschwäche. Zudem sei eine seelische Behinderung nicht festzustellen.

Am 20.6.2003 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag, den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung des entsprechenden Bescheids vom 7.2.2003 die Kosten ihrer Therapie im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Leipzig für die Zeit vom 7.2.2003 bis einschließlich Juli 2004 zu übernehmen. Im Zeitraum von Oktober 2003 bis März 2004 kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung ihrer seelischen Probleme mit Selbstverletzungsepisoden und Drogenexperimenten. Nach Einholung eines Gutachtens der für das Arbeitsamt Leipzig tätigen Diplompsychologin Dr. Rothschild vom 9.6.2004 beschloss die Familie der Klägerin, dieser die Beendigung des Schulbesuchs nach Erreichen des Hauptschulabschlusses im Sommer 2004 zu gestatten.

Zur Begründung der Klage wiederholte die Klägerin im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und trug ergänzend vor, dass ihr Leistungsabfall besonders in der 9. Klasse nicht auf einer allgemeinen Leistungsschwäche, sondern auf ihrer seelischen Beeinträchtigung und deren Kompensation beruhe. Ihre Ängste seien über die allgemein übliche Schulangst hinausgegangen. Wenn sie sich in der Klasse oder bei Untersuchungen als selbstbewusst oder stabil dargestellt habe, so habe dies auf dem Bestreben beruht, ihre Unsicherheit zu kompensieren.

Der Beklagte trat der Klage entgegen und führte zur Begründung aus, dass die schulischen Stellungnahmen weder eine Dyskalkulie noch eine seelische Behinderung belegten.

Das Verwaltungsgericht Leipzig hob nach vorheriger Einholung fachärztlicher Sachverständigengutachten den Bescheid des Beklagten vom 7.2.2003 in der Gestalt dessen Widerspruchsbescheids vom 19.5.2003 auf und verpflichtete den Beklagten, die Kosten der Therapie der Klägerin im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Leipzig für die Zeit vom 7.2.2003 bis 31.7.2004 zu übernehmen. Zur Begründung führte das Gericht im Wesentlichen aus: Die als Verpflichtungsklage statthafte Klage sei zulässig. Eine Versäumung der Klagefrist könne nicht festgestellt werden. Das Begehren der Klägerin habe sich auch nicht dadurch erledigt, dass sie die Fortsetzung der Dyskalkulietherapie zunächst aus eigenen Mitteln finanziert habe. Auch stehe der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen, dass eine Kostenübernahme für die Zeit nach Ergehen des Widerspruchsbescheides vom 19.5.2003 begehrt we5rde. Eine entsprechende Begrenzung des Leistungsanspruchs auf Hilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfe(gesetz) greife nicht ein, weil der angegriffene Ablehnungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides einen über dessen Erlass hinaus reichenden Regelungszeitraum umfasst habe.

Die Klage sei auch begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Kostenübernahme aus § 35a Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr.1 und Abs. 2 SGB VIII. Nach den eingeholten Sachverständigengutachten und der ergänzenden Ausführung des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche im Termin zur mündlichen Verhandlung stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass die seelische Gesundheit der Klägerin im Februar 2003 mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abgewichen und sie dadurch in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt gewesen sei. Die Klägerin habe an einer Teilleistungsschwäche in Form einer Dyskalkulie und an einer dadurch zumindest maßgeblich mit bedingten, voraussichtlich länger als sechs Monate anhaltenden seelischen Störung, die ihre Teilhabefähigkeit wesentlich eingeschränkt habe, gelitten. Die Dyskalkulie sei auch ursächlich für die noch Anfang 2003 bestehende, anhaltende seelische Störung und die sich daraus entwickelnde wesentliche Beeinträchtigung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe gewesen. Dies folge nicht nur aus dem Gutachten der Diplomheilpädagogin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Häufele und Dr. Wehrmann, sondern auch aus den das schriftliche Gutachten vom 14.12.2002 erläuternden und ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche im Termin zur mündlichen Verhandlung. Für die Wesentlichkeit des Ursachenbeitrags genüge es, dass die Dyskalkulie unter den gegeben Randbedingungen – etwa der seelischen Disposition des Betroffenen und den Reaktionen seiner Umgebung auf die Teilleistungsschwäche – eine maßgebliche Ursache für die auftretenden seelischen Probleme und die dadurch hervorgerufenen Teilhabebeeinträchtigungen setze. Dem Anspruch stehe deshalb nicht entgegen, dass die Klägerin nach den Ausführungen des Sachverständigen bei anderer charakterlicher Veranlagung und verständnisvollerer, kompetenz- statt defizitorientierter Reaktion ihrer schulischen und familiären Umgebung die Teilleistungsschwäche hätte kompensiert werden können, ohne schwerwiegende seelische Störungen zu entwickeln.

Mit Beschluss vom 2. Oktober 2006 hat der Senat auf Antrag des Beklagten dessen Berufung gegen das Verwaltungsgerichtliche Urteil zugelassen.

Der Beklagte trägt zur Begründung seiner Berufung im Wesentlichen vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Sachverständige Prof. Dr. med. Beuche einen wesentlichen Ursachenbeitrag der Dyskalkulie für die drohende seelische Behinderung der Klägerin verneint. Hauptgründe für die seelische Entwicklung der Klägerin im Laufe des Jahres 2003 sei deren charakterliche Veranlagung sowie die Erwartungshaltung ihrer Eltern gewesen. Der Sachverständige habe gerade die Erwartungshaltung der Eltern als „das Hauptproblem“ bezeichnet, welches den wesentlichen Ursachenbeitrag zur Entwicklung der Klägerin geleistet habe.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 16. Juni 2005 … die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat sich zur Berufung nicht geäußert.

Dem Senat liegen die zur Sache gehörenden Akten des Beklagten (1 Heftung), sowie die Verfahrensakten des Verwaltungsgerichts und des Zulassungsverfahrens vor dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht vor. Auf diese Akten sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze im Berufungsverfahren wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (…). Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat mit zutreffende Begründung den Bescheid des Beklagten vom 7.2.2003 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 19.5.2003 aufgehoben und ihn verpflichtet, die Kosten der Therapie der Klägerin im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche Leipzig für die Zeit vom 7.2.2003 bis einschließlich Juli 2004 zu übernehmen.

Die als Verpflichtungsklage statthafte klage der Klägerin ist zulässig. Die Klage ist weder verfristet, noch hat sie sich dadurch erledigt, dass die Eltern der Klägerin ihr die Fortsetzung der Therapie über die 40. Therapieeinheit hinaus zunächst aus eigenen Mitteln ermöglicht haben und der Anspruch auf Kostenübernahme auch einen Zeitraum nach erlass des Widerspruchsbescheides umfasst. Im Hinblick darauf, dass der Beklagte die Auffassung des Verwaltungsgerichts insoweit nicht in Frage stellt, nimmt der Senat Bezug auf die ausführlichen und zutreffenden Gründe in der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

Die zulässige Klage ist auch gem. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO begründet. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 7.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.5.2003 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten ihrer Dyskalkulietherapie im Zeitraum 7.2.2003 bis zum 31.7.2004.

Der Anspruch auf Kostenübernahme folgt aus § 35a Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 und Abs. 2 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) in der hier maßgeblichen Fassung vom 19.6.2001 (…). Danach haben Kinder und Jugendliche, deren seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen zustand abweicht, einen Anspruch auf ambulante Eingliederungshilfe, wenn wegen dieser Abweichung ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Dabei richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen nach § 39 Abs. 3 und 4 Satz 1, den §§ 40 und 41 BSHG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung i.V.m § 3, §§ 6 ff. der Verordnung nach § 47 BSHG (Eingliederungshilfe-Verordnung) in der Fassung der Änderung vom 19.6.2001 (BGBl. I S. 1046).

Als seelische Störungen, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich beeinträchtigen und damit nach der Terminologie des § 39 Abs. 3 BSHG eine – seelische – Behinderung darstellen können (vgl. hierzu BVerwG, Urt. V. 26.11.1998, FEVS 49, 447 (448 f.)) kommen nach § 3 Nr. 4 EinglH-VO unter anderem Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in Betracht. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch insoweit ausgeführt, dass eine Teilleistungsstörung wie die Dyskalkulie für sich genommen zwar keine seelische Störung im Sinne einer Abweichung vom alterstypischen seelischen Gesundheitszustand gem. § 35a Abs. 1 SGB VIII darstellt. Sie kann jedoch, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hinweist, wegen der Notwendigkeit, ständig gravierende Misserfolge zu verarbeiten, insbesondere bei ungünstigen familiären und äußeren Bedingungen zu seelischen Störungen und wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen im Sinne einer seelischen Behinderung führen (vgl. VG Düsseldorf, Urt. V. 22.1.2001, ZfJ 2001, 196; VG Sigmaringen, Urt. V. 1.4.2003 – 9 K 1632/01 -, zitiert nach juris; für Legasthenie: BVerwG, Beschl. V. 5.7.1995 – BverwG 5 B 119.94 – und VGH Bad-Württ., Urt. V. 13.11.1996 – 6 S 1350/94 -, jeweils zitiert nach juris).

Die Klägerin gehörte nach den zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts in dem hier maßgeblichen Zeitraum zu dem Personenkreis, dem Eingliederungshilfe gem. § 35a Abs. 1, Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 39 Abs. 3 BSHG a.F. zustand. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die von diesem eingeholten Sachverständigengutachten und die ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche im Termin zur mündlichen Verhandlung ergeben haben, dass die seelische Gesundheit der Klägerin im Februar 2003 mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abwich, und dass die Klägerin dadurch in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt war. Bei der Klägerin war bereits im Februar 2003 eine absehbar länger als sechs Monate anhaltende seelische Störung eingetreten. Dies hat das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die vorliegenden gutachterlichen Stellungnahmen zu Recht bejaht. Auch der in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht als Sachverständiger angehörte Prof. Dr. Beuche bestätigte das Vorliegen einer seelischen Störung bei der Klägerin auch zu Beginn des Jahres 2003. So hat er auf Nachfrage der Prozessbevollmächtigten der Klägerin ausgeführt:

„Aus meiner Sicht ist festzustellen, dass bei der Klägerin Anfang 2003 eine seelische Störung vorhanden war.“

Der Auffassung des Beklagten kann deshalb nicht gefolgt werden, bei der Klägerin habe in dem hier maßgeblichen Zeitraum keine seelische Beeinträchtigung vorgelegen.

Im Februar 2003 bestand somit eine seelische Störung der Klägerin. Diese ergibt sich auch aus der Stellungnahme der Diplom-Heilpädagogin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Häufele, die in ihrem Gutachten feststellte, dass die seelische Störung seit mindestens einem Jahr bestand. Sie hielt nach dem im Eilverfahren eingeholten Sachverständigengutachten von Dr. Schulze und den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche im Hauptsacheverfahren auch bis zum Schulabschluss im Sommer 2004 an. Die 2003/2004 eingetretene Zuspitzung wegen anhaltender weiterer Überforderung war nach der zusammenfassenden Beurteilung von Dr. Schulze und den überzeugenden Erläuterungen von Prof. Dr. Beuche im Termin zur mündlichen Verhandlung bereits Anfang 2003 absehbar, da die Klägerin nach ihrer charakterlichen Veranlagung und angesichts des hohen schulischen und elterlichen Erwartungsdrucks auf Dauer nicht in der Lage war, die – dyskalkuliebedingten – Misserfolgserlebnisse im Fach Mathematik zu kompensieren.

Die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft war wegen der seelischen Störung bereits Anfang des Jahres 2003 auch wesentlich beeinträchtigt, soweit die Lebensbereiche Familie und Schule betroffenen waren. Darüber hinaus drohte, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend und überzeugend hingewiesen hat, eine ebenso wesentliche Teilhabebeeinträchtigung in beruflicher Hinsicht. Bereits Anfang des Jahres 2003 zeigten sich bei der Klägerin wesentliche Teilhabebeschränkungen im familiären und schulischen Bereich. Da dies auch vom Beklagten näher bestritten wird, nimmt der Senat insoweit auf die zutreffenden und ausführlichen Gründe im verwaltungsgerichtlichen Urteil Bezug.

Bei der Klägerin hat auch in dem hier maßgeblichen Zeitraum die Teilleistungsschwäche Dyskalkulie vorgelegen. Dies wird durch die der Kammer des Verwaltungsgerichts vorliegenden Gutachten einschließlich der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche im Termin der mündlichen Verhandlung bestätigt.

Entgegen der Auffassung des Beklagten war die Teilleistungsstörung Dyskalkulie auch mit ursächlich für die bei der Klägerin aufgetretene seelische Beeinträchtigung.

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die den Förderungsbedarf auslösende Teilleistungsschwäche eine wesentliche Ursache für die seelische Beeinträchtigung bzw. den Eintritt oder das Drohen einer seelischen Beeinträchtigung oder Behinderung darstellen muss (vgl. BVerwG, Urt. V. 5.7.1995, Buchholz 436.0 § 39 BSHG Nr. 12).

Die Gutachten der Diplom-Heilpädagogin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Häufele, und des Sachverständigen Dr. Wehrmann sowie die Diagnostik des ZTR gehen von einer wesentlichen Mitursächlichkeit der Dyskalkulie für die seelische Störung und die damit einhergehende und weiter drohende Beeinträchtigung der Teilhabe der Klägerin aus. Die Stellungnahmen verweisen darauf, dass das dyskalkuliebedingte Unvermögen der Klägerin, den mathematischen Leistungsanforderungen und den entsprechenden Erwartungen ihrer Eltern zu genügen, aus ihrer wie aus deren Sicht im Mittelpunkt der zur Teilhabebeeinträchtigung führenden seelischen Probleme stehe.

Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Beuche in seinem schriftlichen Gutachten vom 14.12.2004 sowie im Termin zur mündlichen Verhandlung stehen der Feststellung einer wesentlichen Mitursächlichkeit der Dyskalkulie für die seelische Störung und die damit verbundene Beeinträchtigung der Teilhabe der Klägerin nicht entgegen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend und überzeigend darauf hingewiesen, dass es für die Wesentlichkeit des Ursachenbeitrags genügt, dass die Dyskalkulie unter den gegebenen Randbedingungen – etwa der seelischen Disposition des Betroffenen und den Reaktionen seiner Umgebung auf die Teilleistungsschwäche – eine maßgebliche Ursache für die auftretenden seelischen Probleme und die dadurch hervorgerufenen Teilhabebeeinträchtigungen setzt. Der Charakter des Betroffenen und sein soziales Umfeld müssen, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hingewiesen hat, für die Kausalitätsprüfung i.S.d. § 35a SGB VIII nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift als konstant vorausgesetzt werden. Das Verwaltungsgericht hat weiter zutreffend ausgeführt, dass der Begriff der Eingliederungshilfe deutlich mache, dass die zu gewährende Hilfe nicht auf die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abziele, sondern dem Betroffenen individuell zur Eingliederung in den vorgefundenen sozialen Zusammenhang gewährt werde. Das Verwaltungsgericht hat hierzu weiter ausgeführt:

„Nach ihrem Sinn und Zweck soll sie gewährleisten, dass eine konkrete Person, deren Charakter ihre Identität bestimmt und deshalb nicht ‚hinweggedacht’ und durch eine hypothetische abweichende Persönlichkeitsstruktur ersetzt werden kann, die Unterstützung erhält, die notwendig ist, um ihr die gleichberechtigte Teilhabe am Leben der sie umgebenden Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei wird die soziale Umgebung ebenso als gegeben vorausgesetzt, wie die Person, die sich in diese integrieren muss. Für die Maßgeblichkeit der Dyskalkulie als Ursachenbeitrag für die seelische Störung und die Teilhabebeeinträchtigung genügt es danach, dass die Teilleistungsschwäche zwar nicht ‚allein’ oder ‚für sich genommen’, aber in Verbindung mit dem Charakter der Klägerin, dem hohen Erwartungsdruck und der Konzentration auf das Mathematikproblem zur seelischen Störung führte, die ihrerseits die Teilhabebeeinträchtigungen bedingte.“

Diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist nichts hinzuzufügen.

Das Verwaltungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass der Sachverständige Prof. Dr. Beuche im Termin zur mündlichen Verhandlung diese Kausalkette der Teilleistungsschwäche zur Teilhabebeeinträchtigung überzeugend dargelegt habe. Richtig ist, dass der Sachverständige die wesentliche Ursache für die negative seelische Entwicklung der Klägerin in ihrem Charakter und den Reaktionen ihres Umfelds auf die Teilleistungsstörung sieht. Er hat, worauf das Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend hingewiesen hat, in den mündlichen Erläuterungen seines schriftlichen Gutachtens ausdrücklich klargestellt, dass er die Dyskalkulie als entscheidenden Ansatzpunkt einerseits für das charakterliche Unvermögen der Klägerin sieht, die mathematischen Defizite durch die Konzentration auf andere Stärken statt durch Rückzug und Verweigerung zu kompensieren, und andererseits als Ansatzpunkt für die schulische Überforderung und die überhöhte, selbst nach Misserfolgen nicht revidierte elterliche Erwartungshaltung sowie für die Fokussierung auf das Mathematikproblem.

Nach den oben genannten Maßstäben steht diese Einschätzung des Sachverständigen dem Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Eingliederungshilfe aber nicht entgegen. Der Senat folgt, wie bereits das Verwaltungsgericht, nicht dem Beklagten in seiner Auffassung, Eingliederungshilfe könne nicht gewährt werden, weil die charakterliche Veranlagung der Klägerin und die Reaktion ihres sozialen Umfeldes maßgebliche Ursachen für die Teilhabebeeinträchtigung sei. Dem Beklagten ist allerdings im Ansatz zuzustimmen, dass ein Eingliederungshilfeanspruch dann nicht besteht, wenn – die streitgegenständliche Teilleistungsschwäche hinweggedacht – andere Gründe für die Teilhabebeeinträchtigung ursächlich sind und die Teilleistungsschwäche lediglich die Teilhabebeeinträchtigung verstärkt. So liegen allerdings die Dinge hier nicht. Denkt man die Dyskalkulie der Klägerin hinweg, so käme es, wovon auch der Sachverständige Prof. Dr. Beuche offensichtlich ausgeht, nicht zu den Teilhabebeeinträchtigungen in dem gegenständlichen Umfang. Erst im zusammenwirken mit der charakterlichen Veranlagung der Klägerin und der Reaktion ihres sozialen Umfeldes auf die Teilleistungsschwäche ist letztere eine nicht hinwegzudenkende Ursache für die Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin. Ihr steht deshalb der geltend gemachte Anspruch auf Eingliederungshilfe zu.

(…)

Die Revision an das Bundesverwaltungsgericht ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

(…)