VG Meinigen 12.09.2013

Abschrift

8 K 195/12 Me

VERWALTUNGSGERICHT MEININGEN

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des Landkreises xxx

vertreten durch den Landrat,

xxx

-Kläger-

gegen

den Freistaat Thüringen

vertreten durch den Präsidenten des Thüringer Landesverwaltungsamtes

xxx

-Beklagter-

beigeladen:

das Kind xxx

gesetzlich vertreten durch die Eltern xxx

wegen

Jugendwohlfahrtsrechts

hat die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Meiningen durch den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts xxx, die Richterin am Verwaltungsgericht xxx und die Richterin am Verwaltungsgericht xxx sowie die ehrenamtliche Richterin xxx und den ehrenamtlichen Richter xxx aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. September 2013 für Recht erkannt:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Die am geborene xxx geborene xxx beantragte, vertreten durch ihre Eltern, am 17.01.2011 die Übernahme der Kosten zur Teilnahme an einer Dyskalkulie-Therapie. Sie legte einen Bericht des „Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche“ (ZTR) vom 27.11.2010 vor, aus dem sich Folgendes ergab: xxx könne keine Zahlen und Zahlungsbeziehungswissen und kein Verständnis für Rechenoperationen als abstrakte Mengen herstellen. Dadurch könnten Zusammenhänge zwischen Aufgaben nicht erkannt und Ableitungsstrategien nicht zum Tragen kommen. Um Rechenergebnisse zu produzieren, bemühe sie sich mit Fingern oder in einem Hunderter-Quadrat zu zählen. Bleibe eine sachgemäße Intervention zur Beseitigung der Wissensdefizite weiterhin aus, werde sich bei xxx das von jeder Einsicht in die Logik des Rechnens getrennte begriffslose Ausführen von Zähl- und Rechenverkehrsregeln chronifizieren. Dies sei weder durch ein häusliches noch durch ein schulisches Training zu vermeiden. Die soziale Teilhabe sei bereits erheblich gestört, was sich schon daran festmachen lasse, dass ihr Umgang mit Geld, der Uhr und dimensionierten Größen gestört sei. Die Diagnose Dyskalkulie sei daher eigentlich schon identisch mit der Feststellung einer drohenden seelischen Behinderung. Am 10.03.2011 fertigte die Klassenlehrerin von xxx eine Beschreibung des Leistungsstandes an, aus der sich ergab, dass xxx Lernrückstände im Fach Mathematik hatte, weil sie Grundaufgaben nicht gedächtnismäßig beherrsche, unsichere Mengen- und Zahlenvorstellungen sowie Probleme beim Lösen von Sachaufgaben habe. Hinsichtlich des allgemeinen Lern- und Leistungsverhaltens und des psychosozialen Verhaltens war die Beschreibung des Leistungsstandes im Wesentlichen positiv. Es wurde festgestellt, dass eine pädagogische Förderung und seit dem 2. Schuljahr eine Stunde wöchentlich Förderunterricht stattfinde. Damit sei erreicht worden, dass sich die Mengenvorstellungen verbessert haben und Grundaufgabenkenntnisse teilweise gefestigt wurden. Einen Zusammenhang zwischen der Leistungsstörung und der psychosozialen Entwicklung sah die Klassenlehrerin nicht. Am 19.04.2011 hat Frau Dr. xxx, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin des Landratsamtes xxx eine ärztliche Bescheinigung ausgestellt, nach der bei xxx keine Funktionsstörungen und keine sonstigen Beeinträchtigungen vorliegen. Die Diagnose Dyskalkulie könne aus fachlichen Gründen nicht bestätigt werden. Bei xxx gebe es keinerlei psychische oder körperliche Begleitsymptome.

Mit Bescheid vom 15.06.2011 lehnte der Kläger den Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulietherapie für xxx als Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ab. Dyskalkulie sei eine Teilleistungsschwäche, die als solche noch keine seelische Störung im Sinne von § 35a SGB VIII darstelle. Vielmehr müsse die Teilleistungsschwäche Hauptursache für eine seelische Störung sein, die ihrerseits zu einer Beeinträchtigung bei der Eingliederung in die Gesellschaft führen würde. Die seelische Störung müsse so intensiv sein, dass sie über bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder teilen würden, in behinderungsrelevanter Weise hinausgehe. Dies sei zum Beispiel bei einer auf Versagungsängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule der Fall. Nach der Auskunft des Staatlichen Schulamtes xxx werde xxx auf Grund der bestehenden Lernrückstände in Mathematik individuell pädagogisch gefördert. Die vorhandenen Defizite würden nach Angaben des Schulamtes keine Störung im Sozialverhalten bedingen. Ein Mindeststandard, der durch die schulischen Fördermaßnahmen zur Verfügung stehe, reiche zur Behebung der Störungen grundsätzlich aus. Es sei Aufgabe der Schule und der Schulaufsicht, die typischerweise mit der Legasthenie und Dyskalkulie verbundenen Sekundärfolgen wie Schulunlust, Gehemmtheit und Versagensängste zu erkennen und abzustellen. Eine isolierte Förderung des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens sei nicht Aufgabe der Jugendhilfe im Sinne von § 27 SGB VIII. Die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit einer seelischen Behinderung würde voraussetzen, dass ein Eingliederungsbedarf im sozialen und psychischen Bereich bestehe, der bei xxx jedoch nicht zu erkennen sei. Die Übernahme der Kosten für die von den Eltern bereits selbst beschaffte Hilfe sei daher nicht möglich.

Gegen den Bescheid legte xxx vertreten durch ihre Eltern, am 15.07.2011 Widerspruch ein. Das Landratsamt xxx hat dem Widerspruch nicht abgeholfen und dem Thüringer Landesverwaltungsamt zur Entscheidung vorgelegt. Mit Schreiben vom 11.11.2011 hat das Thüringer Landesverwaltungsamt darauf hingewiesen, dass § 35a Abs. 1a SGB VIII zwingend die Verpflichtung vorsehe, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Stellungnahme hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit einhole. Den Unterlagen sei lediglich zu entnehmen, dass eine ärztliche Bescheinigung des Gesundheitsamtes existiere, in der Frau Dr. xxx darauf hinweise, dass die Diagnose Dyskalkulie aus fachlichen Gründen nicht bestätigt werden könne. Die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens sei deshalb gegebenenfalls nachzuholen. Mit Schreiben vom 13.02.2012 reichten die Eltern von xxx beim Landratsamt xxx einen ärztlichen Bericht ein, in dem Frau Dr. xxx bestätigte, dass xxx an Dyskalkulie leide und durch die extreme Rechenschwäche für sie Aufgaben im täglichen Bereich, wie Umgang mit Geld und Uhrzeiten nicht zu lösen seien. Die Lernstörung habe bereits zu Versagensängsten geführt und werde ohne fachspezifische Therapie zu einer seelischen Behinderung führen.

Mit Bescheid vorn 12.03.2012 hat das Thüringer Landesverwaltungsamt dem Widerspruch abgeholfen. Das Jugendamt xxx wurde verpflichtet, die Kosten der Dyskalkulie-Therapie am „Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche“ auf der Grundlage von § 35a SGB VIII für xxx ab 17.01.2011 bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsbelehrungsfrist im Widerspruchsverfahren zu übernehmen. Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII hätten Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweiche und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Die Entscheidung, ob eine seelische Behinderung in diesem Sinne vorliege, sei in einem zweistufigen Verfahren zu vollziehen, das sich einerseits auf den Zustand der seelischen Gesundheit und andererseits auf die Auswirkungen auf das Leben in der Gesellschaft beziehe. Zunächst sei zu prüfen, ob eine Abweichung von der alterstypischen seelischen Gesundheit nach Maßgabe des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vorliege. Daran anschließend sei weiter zu klären, ob und wie sich die seelische Störung auf die Integration des Betroffenen in die Gesellschaft auswirke. In § 35a Abs. 1 a SGB VIII werde festgelegt, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfüge, einzuholen habe. Das Jugendamt xxx habe für seine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe eine solche Stellungnahme nicht eingeholt. Damit liege ein Verfahrensfehler vor, der den darauf basierenden Bescheid anfechtbar mache. Gemäß § 41 Abs. 1 SGB X sei der Verfahrensmangel heilbar, wenn die Mitwirkung nachgeholt werde. Das Landesverwaltungsamt habe deshalb das Landratsamt xxx auf den Verfahrensfehler hingewiesen und gebeten, ein entsprechendes aussagefähiges Gutachten vorzulegen. Daraufhin sei die Stellungnahme der Frau Dr. xxx (Fachärztin für Pädiatrie) übersandt worden. Diese ärztliche Bescheinigung sei weder von einer fachlich qualifizierten Person erstellt noch erfülle sie die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 a SGB VIII. Der Bescheid vom 15.06.2011 sei deshalb wegen unzureichender Sachverhaltsermittlung rechtswidrig. Ihm werde nur deshalb abgeholfen, weil dem Jugendamt des Klägers Verfahrensfehler unterlaufen seien. Inwieweit die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe vorliegen würden, sei nicht berücksichtigt worden und vom Jugendamt des Klägers zu prüfen.

Am 18.04.2012 hat der Kläger dagegen Klage erhoben. Mit Beschluss vom 23.04.2012 wurde xxx vertreten durch ihre Eltern, gemäß § 65 VwGO zum Verfahren beigeladen.

Der Kläger meint, ein Abhilfebescheid könne gemäß § 72 VwGO nur von der Ausgangsbehörde selbst erlassen werden. Der Beklagte sei nach § 73 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 10 Thüringer Ausführungsgesetz zur VwGO Widerspruchsbehörde und könne nur einen Widerspruchsbescheid erlassen. Die Abhilfe und der Abhilfebescheid seien daher bereits formell rechtswidrig. Darüber hinaus sei die Auffassung, dass die fehlende Beteiligung eines Arztes zur Rechtswidrigkeit des Bescheides führe, unzutreffend. Im vorliegenden Fall könne dahin stehen, ob tatsächlich eine ärztlich diagnostizierte seelische Behinderung vorliege, denn die seelische Störung müsse so intensiv sein, dass sie über bloße Schulprobleme und Schulängste hinausgehe und zum Beispiel zu einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Lern- und Schulverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und zur Vereinsamung in der Schule führe. Bei xxx sei ihre Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht beeinträchtigt, weder im schulischen, gesellschaftlichen noch im familiären Bereich. Seitens der Schule sei eingeschätzt worden, dass sie erfolgreiche soziale Kontakte pflege, Freude am Lernen zeige, guten Kontakt zu Mitschülern habe und häufig den Kontakt zu Lehrern suche, sich häufig am Unterricht beteilige, leistungsorientiert und motiviert wirke. In ihrer Freizeit sei sie aktiv und erfolgreich im Leichtathletik-Verein eingebunden, nehme am Rennsteiglauf teil und schwimme regelmäßig. Es seien noch keine Anzeichen dafür erkennbar, dass als zu erwartende Beeinträchtigung ein erfolgreicher Schulabschluss gefährdet sein könnte.

1.

Der Kläger beantragt,

den Abhilfebescheid des Beklagten vom 12.03.2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

§ 35a Abs. 1 a SGB VIII normiere, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit die Stellungnahme einer der im Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 vorgesehenen Personen zwingend einzuholen habe. Erst anschließend sei weiter zu klären, ob und wie sich die seelische Störung auf die Integration des Betroffenen in die Gesellschaft auswirke. Der Kläger habe eine solche Stellungnahme jedoch nicht eingeholt. Dies führe zu einer Verletzung materiellen Rechts. Eine Umdeutung des Abhilfebescheides in einen Widerspruchsbescheid sei möglich.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Ihre schlechten schulischen Leistungen nur in Mathematik seien seit der Einschulung auffällig gewesen. Als in Klasse 2 die Vergabe von Noten dazu gekommen sei, habe sie jeden Tag große Angst vor dem Mathe-Unterricht gehabt. Besonders schlimm sei es gewesen, wenn Arbeiten angekündigt gewesen seien. Schlaflose Nächte, Bauchschmerzen, Aufregung und Kopfschmerzen seien einige der Anzeichen gewesen. Die fehlende Fähigkeit z. B. beim Umgang mit Geld oder der Uhrzeit hätte ihr große Probleme beim täglichen Leben bereitet. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der Behördenvorgänge des Klägers und des Beklagten (je ein Hefter) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Anfechtungsklage ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Der als Abhilfebescheid bezeichnete Bescheid des Beklagten vom 12.03.2012 ist im Ergebnis rechtmäßig.

Zwar hat der Beklagte den Bescheid fälschlich als „Abhilfebescheid“ bezeichnet, den nach § 72 VwGO jedoch nur die Ausgangsbehörde erlassen kann, wenn sie den Widerspruch für begründet hält. Die nächsthöhere Behörde, also hier der Freistaat Thüringen vertreten durch das Thüringer Landesverwaltungsamt, erlässt gemäß § 73 Abs. 1 Nr. 1 VwGO einen Widerspruchsbescheid, unabhängig davon, ob sie den Widerspruch für begründet hält und ihm stattgibt oder ob sie ihn für unbegründet hält und den Widerspruch zurückweist. Der Begründung des Bescheides ist jedoch zu entnehmen, dass der Beklagte tatsächlich über den Widerspruch der Beigeladenen entscheiden, also einen Widerspruchsbescheid erlassen wollte. Der Abhilfebescheid ist deshalb in einen Widerspruchsbescheid umzudeuten.

Der Beklagte hat den Kläger zu Recht verpflichtet, die Kosten für die Dyskalkulie-Therapie der Beigeladenen zu übernehmen. Der Bescheid des Klägers vom 15.06.2011 war rechtswidrig, denn der Kläger hat es versäumt, ein Gutachten im Sinne des § 35a Abs. 1, 1a SGB VIII über die seelische Gesundheit der Beigeladenen einzuholen. Die durch dieses Ermittlungsdefizit entstandene Unmöglichkeit, den Sachverhalt nunmehr noch aufzuklären, geht zu Lasten des Klägers und führt zu seiner Kostentragungspflicht.

Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit ist nach § 35a Abs. 1a SGB VIII die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen.

Das Gesetz gibt schon nach dem Wortlaut die zwingende Reihenfolge der Prüfung vor. Im ersten Schritt ist festzustellen, ob die seelische Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Im zweiten Schritt muss das Jugendamt selber prüfen, ob daher, also durch die Abweichung, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Die Teilhabebeeinträchtigung muss auf der seelischen Funktionsstörung basieren (vgl. Stähr in Hauck/Haines, SGB VIII, § 35a Rn. 28). Ohne Kenntnis darüber, ob und wie die seelische Gesundheit abweicht, kann das Jugendamt auch nicht beurteilen, ob daher eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht. Der Jugendhilfeträger ist deshalb bei der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen verpflichtet, die Stellungnahme eines der in Absatz la genannten Ärzte oder Psychotherapeuten einzuholen (vgl. Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., § 35a Rn. 36a). Bei der Vorschrift handelt es sich um eine Mitwirkungsregelung analog §§ 40 Abs. 3 Nr. 4, 41 Abs. 1 SGB X. Die Stellungnahme stellt einen internen Mitwirkungsakt dar, der nicht selbständig anfechtbar ist. Wird die Stellungnahme jedoch nicht eingeholt oder von einer fachlich nicht qualifizierten Person abgegeben liegt ein Verfahrensfehler vor, der den Bescheid über die Gewährung oder Ablehnung der Eingliederungshilfe anfechtbar macht. Eine Ausnahme davon kann nur dann vorliegen, wenn sicher auszuschließen ist, dass sich der Verfahrensfehler auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt hat (vgl. Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., § 35a Rn. 36g). Davon kann hier jedoch nicht ausgegangen werden, da Dyskalkulie grundsätzlich zu einer seelischen Funktionsstörung und einer darauf beruhenden Teilhabebeeinträchtigung führen kann (vgl. Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., § 35a Rn. 26).

Da der Kläger es versäumt hat, rechtzeitig eine gutachterliche Stellungnahme i. S. d. § 35a Abs. 1a SGB VIII einzuholen, ist es aufgrund des Zeitablaufs von mittlerweile zweieinhalb Jahren nach Antragstellung nicht mehr möglich festzustellen, ob und wie die seelische Gesundheit der Beigeladenen im Zeitpunkt der Antragstellung von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abgewichen ist. Die Beigeladene hat in diesem Zeitraum auf Kosten ihrer Eltern eine Dyskalkulie-Therapie absolviert, die noch andauert. Es ist daher davon auszugehen, dass sich ihre seelische Gesundheit im Vergleich zu dem Zustand von vor zweieinhalb Jahren gebessert hat. Nunmehr wird ein Gutachter nicht mehr in der Lage sein, festzustellen, wie die seelische Gesundheit der Beigeladenen vor Beginn der Therapie war. Es lässt sich mithin nicht mehr aufklären, ob die Beigeladene im Zeitpunkt des ablehnenden Bescheides des Klägers vom 15.06.2011 einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gehabt hätte. Dies beruht auf den unzureichenden zeitnahen Ermittlungen des Klägers, der sich trotz mehrfacher Aufforderung von Seiten des Thüringer Landesverwaltungsamtes geweigert hat, ein Gutachten über die Beigeladene entsprechend § 35a Abs. 1a SGB VIII einzuholen. Auch der vom Thüringer Landesverwaltungsamt ausgesprochenen Verpflichtung im Widerspruchsbescheid vom 12.03.2012, die fehlende Stellungnahme einzuholen, ist der Kläger nicht nachgekommen. Diesen Ermittlungsdefiziten ist geschuldet, dass jegliche Aufklärungsmöglichkeiten verloren gegangen sind. Die Unmöglichkeit der Sachaufklärung muss sich nunmehr zu Lasten dessen auswirken, der sie verschuldet hat (vgl. ThürOVG, B. v. 10.06.2009 – 3 EO 136/09 -). Der Kläger wurde deshalb vom Thüringer Landesverwaltungsamt zu Recht verpflichtet, die Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie der Beigeladenen zu tragen.

Soweit sich der Kläger darauf beruft, die Beigeladene habe sich die Hilfe selbst beschafft und dadurch den Verlust der Aufklärungsmöglichkeiten zumindest mit verursacht, führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Die Selbstbeschaffung der Hilfe schon vor der Entscheidung des Klägers über den Antrag der Beigeladenen war ausnahmsweise zulässig. Der Jugendhilfeträger darf mit der Gewährung der Hilfe nicht so lange warten, bis sich eine gravierende Störung herausgebildet hat, den die Chancen für die Abwendung einer drohenden oder die Besserung einer bestehenden Behinderung sind umso größer, je eher die Therapie einsetzt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 27.10.2011 – OVG 6 N 65.09 -). Die Beigeladene besuchte im Zeitpunkt der Antragstellung die 3. Klasse der Grundschule. Sie war ausweislich der Auskunft ihrer Klassenlehrerin trotz schulischer Förderung seit der 2. Klasse nicht in der Lage, Grundaufgaben in Mathematik gedächtnismäßig zu lösen, hatte unsichere Mengen- und Zahlenvorstellungen und Probleme beim Lösen von Sachaufgaben und deshalb in Mathematik ein „ausreichend“ im Zeugnis. In allen anderen Fächern hatte die Beigeladene die Noten „sehr gut“ oder „gut“, lediglich in Deutsch ein „befriedigend“. Um ihre Schullaufbahn durch die Einschränkungen in Mathematik nicht zu beeinträchtigen und die Auswirkungen der Dyskalkulie auf das tägliche Leben zu bewältigen, war der umgehende Beginn einer Therapie erforderlich. Da das Jugendamt des Klägers erst fünf Monate nach Antragstellung über die Gewährung der Hilfe entschieden hat, ohne in dieser Zeit die nötigen Ermittlungen durchzuführen, konnten an dessen Stelle die Eltern der Beigeladenen die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit der Therapie treffen (vgl. BayVGH, U. v. 15.05.2013 – 12 B 13.129 -).

Die Klage war deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Vollstreckungsabwehrbefugnis beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11,711 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Thür. Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beantragt werden. Der Antrag ist beim Verwaltungsgericht Meiningen, Lindenallee 15, 98617 Meiningen (Briefanschrift: Postfach 100261, 98602 Meiningen) schriftlich zu stellen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Thüringer Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Berufung ist nur zuzulassen,

1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,

2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,

3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Hinweis: Für dieses Verfahren besteht, mit Ausnahme der Streitwertbeschwerde und der Prozesskostenhilfeentscheidung, Vertretungszwang nach § 67 Abs. 2 und 4 VwGO.

2.

gez.: xxx xxx xxx

8 K 195/12 Me

Verwaltungsgericht Meiningen

Niederschrift

über die öffentliche mündliche Verhandlung vom 12.09.2013

im Verwaltungsgericht Meiningen, Sitzungssaal A0202

Anwesend:

Vizepräsident des Verwaltungsgerichts xxx

Richterin am Verwaltungsgericht xxx

Richterin am Verwaltungsgericht xxx

ehrenamtliche Richterin xxx

ehrenamtlicher Richter xxx

Justizangestellte xxx als Protokollantin

Beginn der Verhandlung: 09:34 Uhr

Ende der Verhandlung: 10:36 Uhr

In dem Verwaltungsstreitverfahren

Des Landkreis xxx

Vertreten durch den Landrat,

xxx

-Kläger-

gegen

den Freistaat Thüringen

vertreten durch xxxx

-Beklagter-

beigeladen:

xxx

wegen Jugendwohlfahrtrechts

erscheinen bei Aufruf der Sache:

für den Kläger xxx

für den Beklagten: xxx

Die Berichterstatterin trägt den wesentlichen Akteninhalt vor.

Die Klägervertreterin beantragt,

Der Bescheid des Beklagten vom 12.03.2012 wird aufgehoben.

v.u.g.

Die Beklagtenvertreterin beantragt,

die Klage abzuweisen.

v.u.g.

Die Vertreter der Beigeladenen stellen keinen Antrag.

Die Sach- und Rechtslage wird mit den Beteiligten erörtert, zunächst beschränkt auf die Frage, ob in diesen Fällen zwingend ein Gutachten einzuholen ist. Das Gericht weist darauf hin, dass nach seiner vorläufigen Rechtsmeinung auf ein Gutachten keinesfalls verzichtet werden darf. Die Beteiligten äußern sich hierzu. In diesem Zusammenhang erklärt die Klägervertreterin, dass zwischenzeitlich Gutachten eingeholt werden, dass aber noch eine Reihe von Fällen anhängig sei, in denen wie im vorliegenden Fall verfahren worden sei. Das Gericht regt eine vergleichsweise Erledigung des Rechtsstreites an. Die Vertreter der Beigeladenen erklären, dass die Therapie der Beigeladenen Anfang 2011 begonnen habe und voraussichtlich Ende des laufenden Jahres zum Abschluss gebracht werden könne. Die ihnen entstanden Kosten beliefen sich auf 230,- Euro im Monat.

Es wird über einen Vergleich verhandelt.

Die Sitzung wird um 10.05 Uhr unterbrochen.

Die Sitzung wird um 10.17 Uhr fortgesetzt.

Ein Vergleich kommt nicht zustande.

Erörtert wird noch die Frage, ob der „Abhilfebescheid“ in einen Widerspruchsbescheid umzudeuten ist. Die Folgen der nun nicht mehr möglichen Nachholung der Begutachtung werden erörtert. In diesem Zusammenhang weist das Gericht auf die Entscheidung des Thüringer OVG vom 10.06.2009, Aktenzeichen 3 EO 136/09 hin. Die Beteiligten haben Gelegenheit sich zu äußern.

Die mündliche Verhandlung wird um 10.26 geschlossen.

Nach geheimer Beratung verkündet der Vorsitzende folgendes

Urteil:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Der Vorsitzende begründet die Entscheidung.

Der Vorsitzende Die Protokollantin

gez. xxx gez. xxx